Fastenverzicht ist kein Charakterriss

In diesen Wochen gefallen sie sich wieder darin, zu fasten. Nicht aus religiösen Gründen, auch nicht so sehr als Wiedergutmachung für die dem eigenen Körper in den karnevalistischen Wochen zugefügten Schändungen. Die meisten tun es, weil man es jetzt einfach tut, weil es hip ist, weil sie dann sagen können „nein danke, ich faste jetzt“, wenn sie ein angebotenes Craft-Bier oder eine Einladung in den nächsten hippen Burgerladen, den mittlerweile siebenundzwanzigsten in der näheren Umgebung, ausschlagen. Fasten ist mittlerweile so angesagt wie politisch korrekt in die (linke) Armbeuge zu husten, Vollbart zu tragen (zumeist Männer), sein Gemüse in einer alten Kiste im Innenhof zu ziehen, was die Möglichkeit eröffnet, beiläufig den Begriff urban gardening ins Gespräch einzuflechten, sich von püriertem Gemüse der absonderlichsten Sorten zu ernähren, während der Arbeitszeit auf dem Büroflur eine Runde zu kickern, mit Laktosinkompetenz / Brokkoliunverträglichkeit zu prahlen, seine täglichen Schritte elektronisch zählen zu lassen oder seinen morgendlichen Kaffee bei einer dieser hippen fahrenden Buden in einen Pappbecher oder den mitgebrachten Thermobecher abfüllen zu lassen, um ihn anschließend auf dem Weg zum Büro im Minutentakt nippend zu verzehren. Wann fing das eigentlich an, dass Menschen sich gezwungen fühlen, überall einen gefüllten Kaffeebecher mit sich herum zu tragen?

Beliebte Objekte des ritualisierten Verzichts sind Alkohol, Snacks, Zigaretten sowieso, und das nicht nur zu Fastenzeit, Fleisch, also nur, wer sich immer noch nicht vegan oder wenigstens vegetarisch ernährt; manche behaupten gar, sie wären weniger online, was von allem am wenigsten glaubhaft erscheint. Früher galt es als hart, im Winter ein Loch ins Eis zu hacken, um darin zu baden, heute, fünf Minuten auf den Bus zu warten und dabei nicht auf das Smartphone zu schauen.

Ich mache das nicht mit, halte  den Verzicht auf das Fasten keineswegs für einen Charakterriss, andererseits stört es mich nicht, wenn andere es tun, solange sie mir mein Abendglas und die Feierabendzigarette nicht madig zu machen suchen. Ich hätte indes noch zwei Fastenvorschläge: Verzichtet doch mal vier Wochen lang darauf, ständig „okay“ zu sagen, wenn man euch was erzählt, und sagt nicht andauernd „genau“, wenn ihr eigentlich „äh“ meint. Damit wäre schon vielen geholfen und die Welt wäre eine etwas schönere. Auf weitere Ratschläge verzichte ich.

Über Zeit, Shakespeare und Larmoyanz

Es ist an der Zeit, sich Gedanken zur Zeit zu machen. Also nicht Zeit im Sinne von aktuellem Geschehen, zum Beispiel darüber, dass die neue britische Bundeskanzlerin (oder wie die das bei sich nennen) ausgerechnet den lächerlichen Kasper zum Außenminister ernannt hat, der maßgeblich an den Ursachen für das Chaos beteiligt war, in welches das Land gerade zu geraten droht. Lebte Shakespeare noch, würde er daraus vielleicht ein absurdes Drama dichten, über welches man noch in hundert Jahren lachte. Oder weinte, wir werden sehen.

Als Kind glaubte ich, Shakespeare hätte was mit Bier zu tun – Scheek’s Bier, Beck’s Bier, Herforder Pils und wie die alle hießen. Bier war dieses widerlich-bittere Getränk, das mein Vater und die anderen Männer gerne tranken, aber nur, wenn es mit einer ordentlichen Schaumkrone serviert wurde. Papa trank am liebsten Export, das inzwischen auch aus der Zeit gefallen scheint, zumindest ist es mir seit mindestens zwanzig Jahren nirgendwo mehr begegnet. Zu Hause trank er Bier aus der Flasche, das ging dann auch ohne Schaumkrone, Erwachsene waren schon komische Leute. Mit den Worten „Geh Papa mal ein Bier holen“, dieser von Erwachsenen gegenüber Kindern gerne verwendeten dritten Person mit Selbstbezug, schickte er mich in den Keller; meine Frage „Warum ich?“ wurde mit dem unschlagbaren Argument „Du hast die jüngsten Beine“ beantwortet. Heute holen die Väter den Kindern die Getränke, weil die lieben Kleinen dazu viel zu beschäftigt sind mit ihrem Smartphone, außerdem lauert überall die Gefahr. Demnächst übernimmt das dann wohl ein Haushaltsroboter, der von einem im Kindskopf implantierten Chip ein Durstsignal übermittelt bekommt, und schon rollt er zum Kühlschrank und holt ein supergesundes Vitamingetränk aus geschreddertem Brokkoli und Grünalge.

Die Tage las ich einen interessanten Artikel über Transhumanismus, einer Idee, die – stark vereinfacht zusammengefasst – danach strebt, den Menschen mit Hilfe der Technik unsterblich beziehungsweise ihn später durch die Schaffung künstlicher Intelligenz ganz überflüssig zu machen. Darin wird ein gewisser Raymond Kurzweil, Chefingenieur bei Google, zitiert: „Wenn wir die gesamte Materie und Energie des Kosmos mit unserer Intelligenz gesättigt haben, wird das Universum erwachen, bewusst werden und über eine fantastische Intelligenz verfügen.“ Man stelle sich vor: Eine Intelligenz, die tötet, weil Menschen an das falsche oder gar nicht glauben; die alle Vernunft fahren lässt, weil ein paar überbezahlte Werbeträger gegen einen Ball treten; die Helene Fischer huldigt; die Laubbläser, Waschbeton oder Wörter wie ‚Migrationshintergrund‘ oder ‚Doppelhaushälfte‘ erfindet; die einfachste Zusammenhänge nur versteht, wenn sie in einer aufgeblasenen Powerpoint-Präsentation dargestellt sind; die Menschen dazu zwingt, kleine Monster mit einem kleinen Bildschirm zu fangen und sie dabei vor die Straßenbahn rennen lässt. Die Individuen hervorbringt, die der festen Überzeugung sind, Barcodes aller Art würden in negativer Weise Energie bündeln, der nur durch einen dünnen Querbalken Einhalt geboten werden könne, woraufhin manche Unternehmen die Barcodes auf ihren Produkten in vorgenannter Weise entschärfen, um erstgenannte zu besänftigen, worüber sich wiederum andere Individuen in sozialen Hetzwerken empören. Ich bin mir sicher, spätestens in dem Moment, da diese Intelligenz den letzten Mond des allerletzten Planeten am äußersten Rand des Universums erreicht hat, spätestens dann fällt es mit dem Geräusch eines gigantischen Furzes in sich zusammen und schrumpft innerhalb von Sekunden auf die Größe eines Stecknadelkopfes. Und die galaktische Uhr steht wieder auf null Uhr null.

Was ist Zeit? Eine Frage, die nicht nur Udo Jürgens (es war doch Udo Jürgens?) in der Titelmusik einer Zeichentrickserie der Achtziger stellte, sondern mit der sich seit frühester Zeit Philosophen beschäftigen. Obschon ich weder Philosoph noch Udo Jürgens bin, versuche ich, es so zu beantworten: Zeit ist das, was a) wahnsinnig langsam oder b) wahnsinnig schnell vergeht und c) wovon die meisten viel zu wenig haben.

Zu a): Sie stehen an der Bushaltestelle, es ist kalt und es regnet, Sie haben ihren Schirm vergessen und es gibt keinen Unterstand. Ein Kollege labert Sie voll mit Dingen, die Sie nicht interessieren (sein Auto, seine Kinder, sein Urlaub, sein Projekt…) und der Bus kommt erst in zehn Minuten.

Zu b): Wann war nochmal dieser geile Sommer mit Sonne und Hitze von Mai bis September? Was, 2003, schon dreizehn Jahre her?

Zu c): Ich habe einen Job mit klassischem Achtstundentag, mit Hin- und Rückweg ungefähr neun Stunden, mal etwas mehr, manchmal auch weniger. Acht Stunden schlafe ich, versuche ich jedenfalls. Also nicht im Büro, das fiele wahrscheinlich irgendwann auf, sondern überwiegend nachts. Bleiben rein rechnerisch sieben Stunden Freizeit täglich, zuzüglich Wochenenden und sechs Wochen Urlaub. Die Natur schenkte mir keine Kinder, worüber ich keineswegs unglücklich bin, muss ich doch niemanden zur Schule, zur Yogastunde, zum Rhönradtraining oder zum Triangel-Unterricht bringen oder vegan-vitaminreiche Getränke aus dem Kühlschrank holen oder rund um die Uhr belustigen (der Liebste und der Geliebte sind in dieser Hinsicht erfreulich anspruchslos). Immer wieder frage ich mich: Wie schaffen Eltern das? Zudem hat die Natur es so eingerichtet, dass sie in alledem nicht nur eine lästige Pflicht sehen, sondern das größte denkbare Glück. Respekt, liebe Natur!

Außerdem schaue ich kaum Fernsehen, Youtube, -porn oder irgendwelche Serien aus dem Netz, ich habe kein Facebook-Konto und Twitter spielt keine nennenswerte Rolle mehr. Ich müsste also genug Zeit haben. Dennoch könnte ich eine lange Liste schreiben mit all den Dingen, zu denen ich einfach nicht oder viel zu selten komme, hier eine spontane Auswahl:

  • Den Bestseller endlich weiterschreiben oder überhaupt erstmal richtig anfangen. Oder wenigstens eine bestsellerverdächtige Idee haben.
  • Mich mit alten Freunden von früher treffen. Aber die wohnen ja alle sonstwo, in Bielefeld zum Beispiel.
  • Die Bücher lesen, die ich gekauft habe, oder bereits gelesene und für gut befundene nochmal lesen.
  • Mal wieder einen Nachmittag an meinem Lieblingsplatz am Rhein verbringen.
  • Mit meiner Modelleisenbahn spielen (ja ich habe eine, dazu stehe ich).
    P1010563_2
  • Endlich meine Schreibtischschublade ausmisten.
  • Zeitig ins Bett gehen. (Im Urlaub klappt das komischerweise.)
  • Mich ohne Anlass in einen Bus setzten, in dessen Zielanzeige eines dieser Bonner Außendörfer steht, wo ich noch nie war, bis zur Endhaltestelle fahren und gleich wieder zurück. Oder etwas verweilen, sollte es dort schön sein.
  • Einen vielbeachteten Artikel für Bundesstadt.com schreiben.

Leider fehlt mir die Zeit, diese Liste auch nur halbwegs zu vervollständigen.

Einer dieser neuzeitlichen Begriffe ist ‚Quality Time‘, also Zeit, die man als positiv erfüllt empfindet, weil man sie genau so verbringt, wie es richtig erscheint, ohne äußere Zwänge und Verpflichtungen. Bei aller Larmoyanz (dieses Wort musste ich aufgrund meiner Unsicherheit über die Schreibweise im Duden nachschlagen, was mich auch wieder Zeit gekostet hat) vorstehender Zeilen erlebe ich durchaus Momente dieser Qualitätszeit. Zum Beispiel das Notieren vorstehender Überlegungen bei einem Glas Rosé. Da es schon spät ist und ich Ihnen eine weitere Liste ersparen möchte, belasse ich es dabei.

Schlussbemerkung: Wenig Verständnis habe ich für das menschliche Bestreben, sich die Zeit zu vertreiben.