Woche 22/2024: Kafka gab mir den Rest

Montag: Gegen vier Uhr dreißig endete für mich die Nacht, ich war wach und schlief nicht mehr ein, jedenfalls nicht dass ich es bemerkt hätte. Vielleicht waren Leib und Seele vom vorangegangenen Wochenende schlafsatt. Vogelgesang vor dem Fenster und Menschengeräusche direkt neben mir erschwerten zudem die Rückkehr in behagliche Träume. Auf die Tagesmüdigkeit und Arbeitslust hatte das keinen Einfluss, die waren so wie stets zu Wochenbeginn.

Eine der ersten Tätigkeiten eines jeden Tages nach Ankunft im Büro ist ein Blick auf die Seite des Kantinenbetreibers, auf dass mich Vorfreude über den Vormittag trage. Heute im Angebot: »Vegane Schwarzkohl-Pilz-Pasta mit Salat dazu geschmorte Schweinebauchwürfel und Salat Bunter Salat.« Das erste Wort verschwand bis zum Mittag, vermutlich hatten sie es selbst gemerkt; der dreifache Salat blieb. Wie auch immer, es schmeckte gut.

»Die Katzenkriegerin« übertitelt der SPIEGEL einen Artikel über die taiwanische Vizepräsidentin. Kurz wunderte ich mich darüber, dass die Frau Katzen gebiert, ehe das Ach-so-ja eintraf.

Dienstag: Die Radionachrichten morgens begannen mit einer Fußballmeldung. So ernst kann die Weltlage demnach nicht sein.

Seit längerem versuche ich, mich in der Kantine nicht ganz so fleischhaltig zu ernähren, im Zweifel wähle ich das vegetarische Gericht, womit ich meistens sehr zufrieden bin. Zu Tofu hatte ich bislang keine Meinung und mied ihn. Zu recht, wie ich nun weiß. Unbeabsichtigt wählte ich heute was damit, fand ihn sowohl vom Geschmack als auch von der Konsistenz her unansprechend, pickte die Brocken heraus und legte sie an den Tellerrand, über den hinauszuschauen man sich bekanntlich nicht scheuen soll und was ich hiermit, wenn auch ungewollt, getan habe. Immerhin habe ich nun zu Tofu eine Meinung; fast alles ist für irgendetwas gut.

Gehört, nicht zum ersten Mal, dafür länger nicht mehr: „… um da etwas Erwartungsmanagement zu betreiben“, eine aufgeschäumte Variante von „Ich will nicht zu viel versprechen“.

Auch gehört: „aufspenden“. Das bedeutet nicht, eine milde Gabe zu erhöhen, vielmehr kennen Sie das vermutlich, wenn Ihre Bank Ihnen eine neue Kreditkarte zuschickt und die so auf dem Briefpapier fixiert ist, dass man sie ohne größere Mühe abnehmen kann, vielleicht mit Kaugummi. Die ist dann nicht aufgeklebt, sondern aufgespendet. Vermutlich ein Anglizismus, ich bin zu müde, es zu recherchieren.

Mittwoch: „Bitte finde anbei unsere Rückmeldung“ steht in einer Mail. Ein Suchspiel.

Er sei bis zum 2. Juni im Urlaub, lässt ein Kollege per Abwesenheitsnachricht wissen, nachdem ich ihm eine Mail geschickt hatte. Kurz darauf beantwortete er meine Nachricht. Offenbar ein sehr langweiliger Urlaub.

Abends wurde ein feiger Anschlag auf unsere Wohnung verübt

Donnerstag: Die Deutschen arbeiten zu wenig, findet nicht nur der Finanzminister. Nach Einschätzung von Ökonomen kostet ein Feiertag die Wirtschaft mehrere Milliarden. Mein schlechtes Gewissen, heute nicht das Werk aufzusuchen, hielt sich in überschaubaren Grenzen, stattdessen widmete ich mich der ganz persönlichen Care-Arbeit in Form eines langen Spaziergangs auf die andere Rheinseite.

Uferpromenade vor Beuel

Wir haben uns auf ARD die Dokumentation »ESC-Legenden: ABBA – Die ganze Geschichte« angeschaut. Beginnend mit dem Sieg beim Grand Prix de tralala 1974, ihr Aufstieg, die Schmähungen im Heimatland, Agnetas Zerrissenheit zwischen Kind und Band, die erste, dann die zweite Scheidung, schließlich das Ende Anfang der Achtziger. Das wars. Fast alles schon mal gesehen und gelesen. Worüber nicht berichtet wurde: wie es danach weiter ging – die Soloprojekte der Damen, die weiterhin erfolgreichen Musikproduktionen der Herren, die Abbatar-Show in London. Vor allem: wie sie wieder zusammenfanden und 2021 das Album Voyager herausbrachten. Das hat mit etwas enttäuscht. Für die ganze Geschichte hätte das dazugehört.

Freitag: Morgens wartete ich mit dem Fahrrad vor einer roten Fußgängerampel, neben mir weitere Personen zu Fuß, unter anderem ein uniformierter Polizist. Von gegenüber näherte sich eine junge Frau, das rote Männchen missachtend, den Blick auf das Datengerät gerichtet. Gespannt schaute ich zum Polizisten, ob und wie er ordnend eingreifen würde. Der zog an seiner Zigarette und ignorierte das Displaygirl, war wohl nicht im Dienst. Das fand ich enttäuschend.

Wenn einem in einer Besprechung der Satz „Ich melde mich gleich bei dir“ zu profan erscheint, kann man stattdessen sagen „Wir können uns dazu gerne im Nachgang bilateral austauschen“. Muss man aber nicht.

Letzte Bürotätigkeit des Tages war, vom Wandkalender den Mai abzureißen. Dabei klingt „Ich gehe erst wieder im Juni ins Büro“ toller als es ist.

Samstag: Zurzeit überall Franz Kafka, heute auf den Titelseiten von SPIEGEL und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die seit geraumer Zeit bereits samstags zugestellt wird. Meine Berührungspunkte mit Kafka waren bislang wenige. In der Mittelstufe lasen wir einen kürzeren Text, „Die Heimkehr“, soweit ich mich erinnere. In der Oberstufe dann „Die Verwandlung“, daran erinnere ich mich gut: Nachdem ich den ersten Satz gelesen hatte, sie wissen schon, Gregor Samsa wacht morgens als Insekt auf, stellte ich die weitere Lektüre ein und wählte das Fach Deutsch ab, damals ging das noch. Schon zuvor bereitete es mir keine Freude, Texte zu interpretieren, Dinge herauszulesen, die dort nicht standen, was wesentlicher Bestandteil des oberstuflichen Deutschunterrichts und der Klausuren war; Kafka gab mir den Rest. Viel später fiel mir „Das Urteil“ in die Hände und ich begann es zu lesen, legte es jedoch bald wieder an die Seite. Irgendwo müsste ich das Buch noch haben, vielleicht nehme ich es mir nochmal vor, mag sein, dass ich inzwischen besseren Zugang finde.

In der FAS ein Interview mit Elke Heidenreich, die ich weniger als Literaturerklärerein wahrgenommen habe, umso mehr als Metzgersgattin Else Stratmann, die in den frühen Achtzigern in Ruhrpott-Deutsch, in meinen Ohren der schönste deutsche Dialekt überhaupt, ganz wunderbar die Welt erklärte. Wunderbar auch das Interview, das so endet:

»Ach, bleiben! Wir haben es doch gar nicht in der Hand. Wer weiß, wie sich die Zeiten ändern und was in hundert, in fünfhundert Jahren geblieben sein wird. Vielleicht gar nichts. Ist doch auch egal, oder? Wenn man tot ist, ist man tot. […] Ich empfinde es als großes Geschenk, einen guten Wein zu trinken, dazu auch mal eine schöne Zigarette zu rauchen, die ich mir, trotz meiner kaputten Lunge, von keinem Arzt verbieten lasse. Ich atme, die Sonne scheint, der Hund guckt mich an – Herrgott, es ist doch so schön zu leben! Und wenn es vorbei ist, sag ich Danke und mach die Augen zu.«

Das hätte Else Stratmann nicht schöner sagen können.

Werbung in der Tageszeitung:

Was nützt Reichtum, wenn man dazu verdammt ist, einen hässlichen Schnauzbart zu tragen

Sonntag: Anlässlich seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens veranstaltete der Kölner Bahnfreundeverein, dem ich genauso lange angehöre, eine Straßenbahnsonderfahrt durch Köln. Zur großen Freude kam dabei ein Zug des Straßenbahnmuseums Thielenbruch zum Einsatz, der bis 2006 in Köln noch alltäglich war, bis heute wusste ich nicht, dass es davon noch ein fahrbereites und bestens gepflegtes Exemplar gibt.

Wagen 3764 in der Wendeschleife Ubierring. Ist er nicht wunderschön?

Im Anschluss gab es eine Führung, Essen und Trinken im Museum. Die Rückfahrt nach Bonn gestaltete sich über Siegburg etwas umwegig, weil die Bahnen zwischen Köln und Bonn mal wieder nicht so fuhren wie sie sollen. Das war nicht weiter schlimm, die Freude über den Tag wirkte noch länger nach.

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, kommen Sie gut durch die Woche.

7 Gedanken zu “Woche 22/2024: Kafka gab mir den Rest

  1. Anonymous Juni 3, 2024 / 07:39

    Schade, dass Ihnen der Herr Kafka das Fach Deutsch verleidet hat-es ist für mich bis heute eines der wenigen Fächer, das bis heute nachklingt, und es hat mein Interesse für Literatur gefestigt.

    Was die Frau Heidenreich betrifft, ist die Metzgersgattin doch schon seit ca 40 Jahren Geschichte. Sie erklärt in Rundfunk und Fernsehen die Literatur (gibt regelmäßig im WDR Büchertipps) und ermutigt die Zuhörer und Zuschauer mit fast missionarischem Eifer zum Lesen, und sie schreibt Bücher.

    Danke für den wie immer erheiternden Wochenbeginn!

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  2. TapetenPoet Juni 3, 2024 / 11:32

    Schon in der Antike wusste man: Differentia est inter tofu et tofu.

    Die Kantine in deinem Werk scheint jene Sorte zu verarbeiten, die geschmacklich und konsistenziell an Türdichtung erinnert. Schade, Tofu kann auch lecker sein. Vielleicht gibst du ihm ja noch eine zweite Chance. Wobei: Ein Leben ohne Tofu ist natürlich auch ohne Weiteres möglich.

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  3. oeiao Juni 19, 2024 / 20:19

    Vielleicht ist „aufspenden“ einfach auch nur schlichtweg falsch. Bei der Bahn fährt man schließlich auch stets „aus“ einem Gleis aus, statt von einem Gleis/ Bahnsteig ab. Das ist im Prinzip normal, Sprachwandel eben, aber durch die derzeitige Dynamik der Sprache und die Geschwindigkeit, wie sie sich verändert, für viele (auch für mich) schwer nachvollziehbar und so wird jeder Wandel, der früher kaum aufgefallen wäre. Thomas Mann „versicherte“ noch im Akkusativ, wir hingegen, knapp 70 Jahre später nutzen den Dativ – das fällt keinem auf, hingegen ist der Wechsel von „wegen“ aus der Riege der Genitivpräpositionen hin zum schnöden Dativ immer noch so ein Raunerthema unter Deutschlehrern…

    Interessanter Blog.

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    • Postwestfale Juni 19, 2024 / 21:29

      Wobei mir die Vorsilbe hier gar nicht so seltsam erscheint, vielmehr ist es das zu Grunde liegende Verb „spenden“, das mich verwundert.

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      • oeiao Juni 19, 2024 / 21:35

        Ja, dem Sprachgefühl nach wirkt es komisch. Aufdrücken, aufkleben, selbst sowas wie „aufheften“ könnte ich mir vorstellen, aber warum spenden? Wenn man mal kurz recherchiert kommt man auf viele Verpackungsindustrie-Seiten, die das Wort durchgehend verwenden. Also vielleicht Fachwortschatz, da gibt es einige Wörter, die einem allgemeinsprachlich die Nackenhaare hochstehen lassen. Ich erinnere mich aus dem Behördendeutsch an „verbösern“, also etwas bewusst/ absichtlich verschlechtern. Der Duden (zumindest die Onlinevariante) kennt das Wort nicht, DWDS auch nicht, selbst das korporabasierte DWS verzeichnet es nicht.

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      • Postwestfale Juni 19, 2024 / 21:40

        „verbösern“ ist jedenfalls ein schönes Wort, das ich mir merken muss. Man könnte es auch „pessimieren“ nennen, als Gegenteil von optimieren.

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