Woche 28: Die Tante kuckt böse

Montag: Dem ersten Arbeitstag nach dem Urlaub wohnt stets eine gewisse Qual inne.  Die heutige Stimmung bringt Michel Houellebecq recht treffend zum Ausdruck:

„Ich habe schon seit langer Zeit keine klare Vorstellung mehr vom Sinn meiner Handlungen; eigentlich frage ich mich kaum noch danach. Die meiste Zeit bin ich mehr oder minder in der Position des Beobachters.“

(Aus „Ausweitung der Kampfzone“)

Wenn Sie mich suchen: Ich befinde mich im Keller meiner Bedürfnispyramide.

Dienstag: Radieschen heißt nicht nur die bekannte rote Feldfrucht, welche mir in der Kindheit immer etwas zu scharf war (vielleicht waren die früher wirklich schärfer und man ihnen die Schärfe inzwischen weggezüchtet, weil der heutige Zeitgeist sie lieber unscharf mag), Radieschen heißt, wie ich erfuhr, auch diese lächerliche Männerfrisur, bei der die rundherum hochgebunden Haare zu einem kleinen Dutt auf der hinteren Schädeldecke zusammengegnubbelt werden.

Bekanntlich kann man ganz am Ende die Radieschen auch von unten betrachten, aber das ist ein anderes Thema. In dieser Bedeutung finde ich die Formulierung „unter des Käfers Keller“ im Übrigen wesentlich origineller.

Mittwoch: Unser Haus würde ich nicht als besonders hellhörig bezeichnen, ein wenig indes schon: Gegen kurz vor sechs in der Frühe hörte ich den Wecker des Nachbarn von oben, nicht weil er klingelte oder ein anderes Geräusch erzeugte – die wenigsten Wecker klingeln ja heute noch im klassischen Sinne -, er vibrierte einfach minutenlang. Bin ich zu empfindlich?

Nachmittags Dienstreise mit der Bahn nach Erfurt. Üblicherweise sprechen Zugbegleiter bei der Begrüßungsansprache ihren Namen so aus, dass man ihn auf keinen Fall versteht, als ob sie das trainieren. Wer weiß, so wie es Rednerschulen gibt, kann man vielleicht auch bahninterne Nuschelkurse belegen. Nicht so heute: „Mein Name ist Erna“, sagte die Dame kurz und deutlich. Auch sonst zeigte sich Frau Erna erfrischend unkonventionell: Bei der Fahrkartenkontrolle sprach sie jeden Fahrgast bis dreißig mit „Bruder“ an, und zwei unbegleitet reisenden Jungs bot sie ihren Schutz an: „Wenn euch wer ärgert, sagt bescheid, dann kommt die Tante und kuckt ganz böse.“ Möglicherweise verstieß sie damit gegen die Kommunikationsrichtlinien der Bahn, mir hat das indessen gut gefallen.

Ansonsten ist Erfurt eine Reise wert.

„Die Arbeitnehmer, die in den 1980er Jahren und später geboren sind, leben nicht, um zu arbeiten. Sie wollen das Leben genießen“, beklagt der Headhunter Klaus Hansen im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Ich kenne mindestens einen in den Sechzigern geborenen Arbeitnehmer, auf den das in gleicher Weise zutrifft.

Donnerstag: Eine Bahnreise durch das Fuldatal ist sehr schön, man sieht dort überraschend viele Störche. Einziger Schönheitsfehler: Entgegen der Reservierung wurde ich in einer Vierersitzgruppe mit Tisch platziert, was ich auf längeren Reisen als unangenehm empfinde. Es ist eng, man kann die Beine nicht ausstrecken, wenn man die Kontaktaufnahme mit dem Gegenüber vermeiden möchte (und das möchte ich unbedingt), und die Möglichkeiten, die Tasche so abzulegen, dass man bei Bedarf darauf zugreifen kann, sind sehr begrenzt.

Eine Dame in der Stadtbahn teilte telefonisch mit, dass ihr Bruder nächste Woche Urlaub in Frankreich mache, dessen Einwohner sie als „Bauernpack“ und „Seppelfritzen“ bezeichnete. „Da bevorzuge isch lieber England“, schloss sie ihre Betrachtung. Besonders helle schien sie nicht.

Freitag: Man sagt, für einen Asiaten sei es das Schlimmste, wenn er sein Gesicht verliert. Doch muss man gar nicht in die Ferne schauen, auch in hiesigen Gefilden fließt vielen der bekannte Zungenbrecher „Fischers Fritz fischt frische Fische“ leichter über die Lippen als der einfache Satz „Du hast recht, ich habe mich geirrt“. Wobei: Wenn man sich morgens in der Bahn umschaut, könnte so mancher über den Verlust seines Gesichts froh sein.

Samstag: Herzlichen Glückwunsch, Herr Gott.

KW28

(aus dem General-Anzeiger Bonn)

Sonntag: Nennen Sie mich ruhig altmodisch, aber: Wenn ich das Licht ein- oder auszuschalten beabsichtige, will ich einen Schalter an der Wand drücken und nicht mit Siri oder einem anderen System diskutieren. Gleichwohl ist es zwecklos, Siri deswegen zu beschimpfen. Insofern wäre ich durchaus bereit, sie für meine unangemessene Wortwahl in der vergangenen Nacht um Entschuldigung zu bitten, wenn es denn irgendeinen Sinn hätte.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass tätowierte Waden scheiße aussehen. Immer und überall.

Ein Gedanke zu “Woche 28: Die Tante kuckt böse

  1. Lakritze Juli 22, 2019 / 22:13

    Zum Dienstag: „Des Käfers Keller“ ist mir neu & schön, ich kannte bislang bloß (österreichische Färbung hinzudenken) „einen Holzpyjama tragen“.

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