Über Schweißfußhass und Präsidentenüberdachung

Wie vergangene Woche vage angedeutet, bin ich mir nicht zu schade, einem weiteren Buchstaben ein paar Minuten Aufmerksamkeit zu opfern: dem ß. Wobei fraglich erscheint, ob es sich bei dem betrachteten Schriftzeichen überhaupt um einen vollwertigen Buchstaben handelt, verfügt es doch über keinen eigenen klangvollen Namen wie das H oder T, und auf der Computertastatur muss es sich oberhalb der Vollwert-Buchstaben eine Taste mit dem Fragezeichen teilen. Je nach Geschmack und Gewohnheit wird es bezeichnet als scharfes Es oder Eszett, dabei sieht es eher einem B ähnlich oder dem griechischen Beta. Das erklärt sich aus der Frakturschrift:

fraktur-s

Möge niemand behaupten, hier lerne er nichts.

Bis vor einigen Jahren war das ß nur als Kleinbuchstabe gebräuchlich, mittlerweile ist seine Nutzung auch als Großbuchstabe zulässig, was sich jedoch anscheinend noch nicht herumgesprochen hat, denn vielfach ist stattdessen immer noch das gedoppelte S gebräuchlich, also zum Beispiel STRASSE statt STRAßE. Das mag angesichts des noch ungewohnten Bildes verzeihlich sein. Unverzeihlich erscheint jedoch das Unvermögen vieler Schreibender, das ß bei gewöhnlicher Schreibung mit Kleinbuchstaben korrekt zu verwenden, also Straße statt Strasse. Dabei ist es seit der viel beschimpften Rechtschreibreform wirklich sehr einfach: Nach einem langen Vokal oder Zusammensetzungen wie ei und au steht ß, nach einem kurzen Vokal ss, denken Sie an den Schweißfußhasser. Dass hierüber schon lange vor der Rechtschreibreform Unsicherheit bestand, veranschaulicht ein Rundgang durch die Bonner Innere Nordstadt.

breite-strasse-1

wolfstrasse-1

heerstrase-1

Dennoch schlage ich vor, es den Schweizern gleichzutun und das ß zugunsten von ss abzuschaffen, die Schatulle des deutschen Wortschatzes wird hierdurch keine Inhaltsschmälerung erleiden, stattdessen erhält das eine oder andere Juwel lediglich einen neuen Schliff. Zumindest wird unsere Sprache dadurch nicht schlimmer verstümmelt als durch die fortschreitende Ersetzung von Sinn ergeben durch Sinn machen. Bei der Gelegenheit plädiere ich auch gleich für die Abschaffung von dass, dessen korrekten Gebrauch in Abgrenzung von das auch immer weniger Menschen zu beherrschen scheinen. Dass ein Wort für beide Verwendungszwecke ausreicht, ist im Englischen mit that längst hinreichend bewiesen, also nur Mut, liebe Sprachwächter.

„Aber so denken Sie doch an die Eindeutigkeit“, höre ich bereits die Kritiker schreien und ihr beliebtes Beispiel aufsagen, wonach es ein großer Unterschied sei, ob Bier in Maßen oder Massen konsumiert wird. Dem entgegne ich: Das ergibt sich aus dem Zusammenhang beziehungsweise der Aussprache. So wie bei jemandem, der Montage gerne mag: Entweder ist er ein Freund des Wochenbeginns, oder er bevorzugt es gegenüber einer Schreibtischtätigkeit, an wechselnden Einsatzorten Windräder, Brücken oder Paketverteilanlagen zusammenzuschrauben. Dennoch rief bislang niemand danach, im zweiten Falle das g, welches dort ja mehr wie sch ausgesprochen wird, besonders zu kennzeichnen, etwa durch ein kleines Spitzdächlein darüber wie bei Erdoĝan.

Nein, das ist eine schlechte Idee, dann würde der Präsident ja Erdoschan ausgesprochen, stattdessen verschwindet das g klanglich unter dem Dach wie hinter einer Schallschutzwand, jedenfalls sofern die Nachrichtensprecher das korrekt aussprechen. Der auswärtige Schrauber wäre also auf Monta’e statt –asche. Das dürfte schwer durchsetzbar sein und eine ernstzunehmende Gefahr für das Abendland darstellen. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob das g durch das kleine Spitzdach wirklich verstummt. So lauschte ich kürzlich einem Interview mit einem deutschsprechenden türkischen Staatsbürger, und der sprach das g bei Erwähnung seines Herrschers konsequent aus. Und falls das Dach das darunter liegende tatsächlich verstummen ließe, wäre dann die Überdachung des kompletten Präsidenten nicht eine gute Idee?

Ich schweife ab. Zur Wahrung der Eindeutigkeit könnte ich mich allenfalls damit anfreunden, nach einem langen Vokal ein einfaches s zu schreiben. Strase und Schweisfus bedürfen zunächst ein wenig der Gewöhnung, aber schon bald wird niemand mehr daran Anstos nehmen.

Apropos abschaffen: Ich bekenne, kein glühender Verehrer des türkischen Präsidenten zu sein. Doch eines halte ich ihm zugute: die Abschaffung der unsäglichen jährlichen Zeitumstellung von Winter- auf Sommerzeit und wieder zurück. Dafür gebührt ihm auf seiner nach unten offenen Sypathieskala ein dicker Pluspunkt. Mit einfachem s.

***

Nachtrag 4.11.2016:
Wie ich erst heute bemerkte, ist in obigem Aufsatz das g des türkischen Präsidenten falsch herum überdacht; korrekt ist es so: ğ. Nun gut, dann ist es eben ein Bahnsteigdach.

4 Gedanken zu “Über Schweißfußhass und Präsidentenüberdachung

  1. heywhatsmynameagain Oktober 11, 2016 / 12:20

    …und wenn wir den Blick zum Oktoberfest richten, wo das Bier ja ebenfalls in Maßen konsumiert wird, wird deutlich, dass „Bier in Maßen“ und „Bier in Massen“ doch eigentlich identisch sind.

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  2. Johannes Mirus Oktober 12, 2016 / 08:26

    Bis vor einigen Jahren war das ß nur als Kleinbuchstabe gebräuchlich, mittlerweile ist seine Nutzung auch als Großbuchstabe zulässig

    Um genauer zu sein: Es gibt seit einiger Zeit ein großes ẞ, das sich idealerweise auch besser ins Schriftbild einpasst: STRAẞE statt STRAßE. Das kleine ß bleibt der Kleinschreibung vorbehalten.

    Ansonsten teile ich deine Meinung, dass man diese Ligatur einfach als eigenen Buchstaben abschaffen sollte. Auch wenn ich Fan von Typografie bin, die meisten Deutschschreibenden sind es nicht.

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    • stancerbn Oktober 12, 2016 / 09:42

      Das ist interessant. Bis auf Tastaturen hat es das (gar nicht mal so) große ß dann anscheinend noch nicht geschafft.

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      • Johannes Mirus Oktober 15, 2016 / 11:54

        Das wird alles noch ein wenig dauern. Wie du im Kommentar sehen kannst, ist das große ß noch nicht einmal in die meisten Schriften integriert. Es würde überhaupt keinen Sinn MACHEN (kicher), das auf Tastaturen anzubringen.

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