Über Meinungsfreiheit

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“, so steht es im Artikel 5 Absatz 1 unseres Grundgesetzes. Das ist gut und richtig. Doch gibt es anscheinend nicht wenige Zeitgenossen, die in dem Recht zur Meinungsäußerung gleichsam eine Pflicht erkennen: In Leserbriefen werden die Nebeneinkünfte des SPD-Kanzlerkandidaten oder das Unkraut im Stadtpark kommentiert; taucht in der Fußgängerzone ein Kamerateam des WDR oder von RTL auf, stürzen sie sich darauf, um ihre Ansichten zu Urheberecht oder Zölibat in die Welt zu bringen (ich selbst mache seit jeher einen großen Bogen um Fernsehleute in Fußgängerzonen), und kein Internetforum, in welchem auf einen Beitrag etwa über die Preiserhöhung der Post nicht seitenlang Kommentare folgen, die spätestens nach dem dreizehnten Eintrag absolut gar nichts mehr mit dem Ursprungsbeitrag zu tun haben – Stille Post 2.0 gewissermaßen.

Ich frage mich: wen interessiert das? Wer will wirklich wissen, welche Meinung wildfremde Menschen zu einem bestimmten Thema haben? Die Leserbriefe in der Tageszeitung überblättere ich genau so schnell wie den Sportteil, und Diskussionen in Internetforen finde ich so spannend wie einer Kohlmeise beim Kacken zuzuschauen.

Kein Zweifel, die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, nicht umsonst an prominenter Stelle in unserer Verfassung geschützt. Für mich bedeutet Meinungsfreiheit aber auch die Freiheit von einer Meinung, mit anderen Worten: ich muss nicht zu allem und jedem eine eigene Meinung haben. So ist es mir egal, ob jüdische und muslimische Jungs beschnitten werden dürfen, und ,Bundesligatabelle‘ ist für mich nur ein Wort wie ,Kompostbeschleuniger‘ – ich habe eine ungefähre Vorstellung, was es bezeichnet, jedoch fehlt mir jedes Interesse, mich damit zu befassen.

Selbstverständlich gibt es viele Themen, zu denen auch ich eine Meinung habe, doch nehme ich mir gerne die Freiheit, diese für mich zu behalten. Die vorstehenden Zeilen zum Beispiel sind nichts weiter als eine persönliche Meinungsäußerung meinerseits. Wenn Sie ähnlicher oder anderer Meinung sind, scheuen Sie sich bitte nicht, einen Kommentar zu hinterlassen!

Da bläst er

Jede Jahreszeit erfreut das menschliche Ohr mit den ihr eigenen Klängen: im Winter tönt es „In der Weihnachtsbäckerei“ aus den Glühweinbuden örtlicher Weihnachtsmärkte, im Frühling lassen uns, triebgetrieben, die gefiederten Freunde ab fünf Uhr in der Frühe nicht länger im Bett verweilen, im Sommer erfüllt chlorschwangeres Kindergeschrei aus dem Freibad die Luft, und der Herbst bietet einen ganz besonderen akustischen Genuss. Von weitem klingt es wie eine Mischung aus Kettensägenmassaker, überfriesiertem Mofa und startendem Düsenflugzeug, bis man ihn vor sich hat, von seinem mit Hörschutz gewappneten Bediener stolz geschwungen: den Laubbläser.

Er ist ein echter Segen für die zivilisierte Menschheit. Mussten unsere Vorväter und -mütter das Laub noch mit Rechen und Besen zusammenfegen, um es, in Säcke gepackt, mühsam zu entsorgen, so blasen wir es heute ohne Kraftanstrengung großflächig in Nachbars Garten. Die damit einhergehenden Hörschäden nehmen wir dafür gerne in Kauf, die heutige Welt ist ohnehin zu laut.

Hätte es in meiner Kindheit schon Laubbläser gegeben, wäre die Liste meiner künftigen Berufswünsche sicher um einen Eintrag länger gewesen. Wobei, wie ist hier eigentlich die genaue Berufsbezeichnung? Blattwerkliquidator, Floralimmissionstechniker, Laub-Bläser, Laubbläserbläser? Oder fällt er unter Terrorist?

Die Verwendungsmöglichkeiten des Laubbläsers sind mannigfach. Ursprünglich aus Südhessen kommend, erfreut sich die Mannschaftssportart Laubball immer größerer Beliebtheit: Zwei Mannschaften aus jeweils sieben Spielern, jeder Spieler mit einem Laubbläser ausgestattet, treiben eine Styroporkugel vor sich her mit dem Ziel, sie in das gegnerische Tor zu pusten. Das Herunterreißen eines gegnerischen Hörschutzes gilt dabei als schweres Foul und wird mit Platzverweis geahndet.

Ein zeitgenössischer Komponist, dessen Name mir momentan entfallen ist, arbeitet dem Vernehmen nach bereits seit geraumer Zeit an einer Herbstsinfonie für Orchester, Klavier, Chor und Laubbläser, die Uraufführung soll am 20. Dezember sein, dem Vorabend des Weltuntergangs.

Auch ich habe den Laubbläser inzwischen für des Heimes Pflege lieb gewonnen. Mühte ich mich früher mit dem Staubsauger ab, so bedarf es heute nur weniger Handgriffe, bis Wollmäuse, Brotkrümel und ähnlicher Unrat unter Schränken, Sofa und Bett ihren Platz gefunden haben. Dass mich die Nachbarn seitdem nicht mehr grüßen, erscheint auf den ersten Blick bedauerlich, doch nehme ich dies als Kollateralumstand gerne in Kauf. Ihre Beschimpfungen höre ich schon lange nicht mehr.