Woche 3/2024: Nicht unerwartet, gleichwohl gruselig

Montag: Angeblich ist der dritte Montag im Januar der traurigste Tag des Jahres, so ist zu lesen, wobei unklar bleibt, ob das eine Erkenntnis der Wissenschaft oder aus dem Tourismus-Marketing ist.

Beim Mittagessen mit einem Kollegen sprachen wir über die aktuellen politischen Entwicklungen und waren uns einig, dass die Aktivitäten und Erfolge der sogenannten Rechten äußerst beängstigend sind, was die Stimmung zu drücken vermag.

Erst abends zu Hause hellte sie deutlich auf, als ich nach längerer Zeit und viel Quengeln endlich mal wieder den Ofen anheizen durfte. Insgesamt war der Tag somit gar nicht so schlecht; wenn es der traurigste des Jahres war, könnte das Jahr ganz gut werden.

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Dienstag: Über Nacht hat es geschneit. Während die Rheinuferpromenade fast vollständig schneebedeckt war, waren in der Innenstadt nur vereinzelte weiße, wenige Quadratmeter große Flecken vorzufinden, als hätte jemand punktuell hier und da, ohne erkennbares Muster, eine Schubkarre voll Schnee ausgekippt und das ganze mit einer sehr feinen Harke anschließend glattgezogen.

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Bereits im vorletzten Jahr hat die Rheinnixe, eine Personenfähre, aus wirtschaftlichen und personellen Gründen dauerhaft den Betrieb eingestellt, ich berichtete. Seitdem lag sie vor dem Beueler Ufer und harrte ihrem ungewissen Schicksal entgegen. Angeblich war sie von dort auch nicht mehr ohne weiteres wegzubewegen, weil sich inzwischen größere Mengen Kies um sie herum abgelagert hatten, nur mit erheblichen Kosten zu entfernen, die keiner übernehmen wollte. Wie ich heute Morgen sah, wurde sie umgeparkt, sie liegt nun an ihrem alten Anlegeplatz auf der Bonner Seite, im Führerhaus brennt Licht, als warte sie nur auf die nächsten Fahrgäste und legte gleich ab. Vielleicht konnte das Hochwasser der vorletzten Woche genutzt werden, um sie zu befreien. Was auch immer der Grund für den Standortwechsel sein mag, mit der Wiederaufnahme des Fährbetriebs rechne ich nicht.

Womit hingegen zu rechnen war: Donald Trump hat die Vorwahl in Iowa gewonnen. Nicht unerwartet, gleichwohl gruselig.

Mittwoch: Wie angekündigt schneite es ab Mittag heftig, deshalb nahm ich statt des Fahrrades die Bahn zum Büro. Auch der Arbeitstag verlief in geregelten Bahnen ohne nennenswerte Vorkommnisse, während draußen die Schneedecke wuchs. In den Büros waren mehr Leute anwesend als erwartet, angesichts der Wetteraussicht rechnete ich damit, dass alle im Heimbüro blieben. Nur der gut gefüllte Futterteller vor dem Fenster blieb unbesucht, weder Raben noch Elstern schienen heute Lust auf Auswärtsessen gehabt zu haben.

In den zuständigen Apps unterdessen Warnungen vor Unwetter, Leib und Leben. Wir haben anscheinend Glück gehabt: Die Eisregenfront zog haarscharf südlich vorbei, hier bei uns nur Schnee, wenn auch mehr als reichlich davon. Warum auch nicht (bzw. „Aber hey“, wem das lieber ist), es ist Januar, da kann es schneien, auch viel. Ich erinnere mich an den Rosenmontag 1987, als über Ostwestfalen heftiger Eisregen niederging. Nach wenigen Stunden war alles mit einer Eisschicht überzogen: Straßen, Gehwege, Autos, Fahrräder, Bäume; letzteren knickten unter der Eislast die Äste ab. So etwas hatte ich vorher noch nicht gesehen. Dasselbe im Dezember 1988 nochmal, ich arbeitete an dem Tag in Werther und hatte Mühe, nach der Arbeit meine Autotür zu öffnen und die festgeeisten Scheibenwischer zu lösen. Irgendwie gelang es mir schließlich und ich kam unfallfrei nach Hause. Soweit ich mich erinnere, sprach beide Male niemand von Unwetter oder Katastrophe, vielleicht irre ich mich auch.

Zur Abwechslung mal wieder die WordPress-Tagesfrage, die heutet lautet: »Kannst du eine Situation schildern, in der du dich geliebt gefühlt hast?« Eine besondere Situation vergangener Zuneigungsbekundung zu nennen fällt mir schwer, vielmehr fühle ich mich durchgehend ausreichend geliebt. Auch wenn meine Lieben bisweilen eine sehr spezielle Art an den Tag legen, das zum Ausdruck zu bringen. Passt schon. (Bitte denken Sie sich hier ein zweifaches herzverziertes Kuss-Emoji.)

Donnerstag: Bonn liegt weiterhin unter einer dichten Schneedecke. Morgens schneite es noch, deshalb wählte ich statt des üblichen Fußmarsches auch heute die Bahn, die mich pünktlich und mit reichlich Platz zum Werk fuhr, das ist zu loben.

Vormittags eine Besprechung in größerer hybrider Runde, die einen saßen am Tisch im Besprechungsraum, die anderen waren zugeschaltet über eine kleine flache Lautsprecherbox auf dem Tisch. Es wurde viel durcheinander geredet. Ich schwieg, schaute nach draußen in den Schnee und fand es schön.

Schön auch die Schlussformel „Gehab dich wohl“, empfangen zum Abschluss eines Telefongesprächs. Die sollte viel öfter Anwendung finden, allemal besser als „Ciao“ oder, was zunehmend am Ende von Mails zu lesen ist: „Cheers“.

Mittags im Park

Zurück ging ich zu Fuß über die immer noch weiße Uferpromenade. Der Schnee ist inzwischen festgetreten, es ließ sich gut und ohne zu rutschen gehen. In der Innenstadt hingegen ist er auf Straßen und Gehwegen zu bräunlichem Matsch angetaut.

Die Rheinnixe an ihrem neuen alten Platz

Nach der Arbeit ging ich zum Zahnarzt wegen der in der vergangenen Woche abgelösten Zahnkrone. Obwohl der Zahn mittelfristig raus soll, erhielt er eine letzte Gnadenfrist, die Krone wurde noch einmal befestigt. Nach Karneval, haben wir vereinbart, melde ich mich wieder wegen der Ziehung. Nach Karneval ist ein dehnbarer Zeitraum.

Freitag: Mittags wurden bevorstehende organisatorische Änderungen bekanntgegeben. Ich behalte meine Aufgaben, meine Kollegen und meinen Chef, darüber bin ich sehr froh. Einzig an eine neue Abteilungs- und Stellenbezeichnung werde ich mich gewöhnen müssen, nicht zum ersten und vermutlich nicht letzen Mal. Ich freue mich nun auf die entsprechenden Mitteilungen dazu, in denen voraussichtlich von verschlankten Strukturen, zu hebenden Synergien und Konzentration auf das Kerngeschäft zu lesen sein wird. Cheers.

Auf dem Heimweg sah ich die ersten Frühblüher ihre Spitzen durch die Schneedecke stechen und freue mich, dass die Natur sich trotz allem offenbar auch in diesem Jahr noch einmal entschlossen hat, zu erwachen.

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Satz des Abends: „Es ist eigentlich traurig, dass man Modern Talking mitsingen kann. Aber man kann es.“

Samstag: Während ich nach dem Frühstück lesend auf dem Sofa weilte, vernahm ich aus der Küche folgenden Dialog: Siri: „Was kann ich für dich tun?“ – Der Geliebte: „Mich am A … lecken.“ – Siri: „Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.“

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Das schrieb einst der Philosoph Ludwig Wittgenstein.

Sonntag: Auch in Bonn wurde heute gegen die zunehmende Bräunung politischer Ansichten demonstriert. Ich war beeindruckt: Bis zum Marktplatz, Ort der Kundgebung, drang ich gar nicht vor, weil bereits die Straßen drumherum voller Menschen mit bunten Schildern und Regenbogenfahnen waren. Hoffentlich nützt es was.

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Gehaben Sie sich wohl, kommen Sie gut durch die Woche.

Rischenkrug

Vorbemerkung: Im Folgenden die kürzlich angekündigten Kindheitserinnerungen. Es ist etwas länger geworden, insofern habe ich volles Verständnis, wenn Sie es nicht bis zum Ende lesen mögen. Gleichwohl war es mir ein Bedürfnis, es aufzuschreiben.

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Das portugiesische Wort „Saudade“ bezeichnet die melancholische Sehnsucht nach jemandem oder etwas, den/das man vermisst und der/das für immer verloren ist. Ein geliebter Mensch, der nicht mehr ist. Das gestohlene Fahrrad. Oder ein Ort, den es nicht mehr gibt, wobei ein Ort an sich ja selten verschwindet, vielmehr kann er sich im Laufe der Zeit so stark verändern, dass er mit dem vermissten nichts mehr gemein hat.

Ein solcher Ort war der Rischenkrug. So nannten wir das Haus unserer Großeltern bei Göttingen, auch wenn das nicht ganz korrekt war, denn der eigentliche Rischenkrug war ein Landgasthof in Sichtweite. Dazwischen das Schrankenwärterhaus „Posten 119“, früher „Blockstelle Rischenkrug“, der Bahnstrecke Göttingen – Dransfeld – Hannoversch Münden. Das Haus der Großeltern stand direkt am Bahngleis, es gehörte der Deutschen Bundesbahn und war früher das amtliche Wohnhaus des Bahnbeamten gewesen. Zu dem Haus gehörten ein Stallgebäude, wo früher Schweine gewohnt hatten, eine Garage, ein Backhaus aus Wellblech und ein hölzerner Hühnerstall. Die Eisenbahner auf dem Land waren einst Selbstversorger gewesen, deshalb gab es auch noch einen großen Gemüsegarten und Obstbäume.

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(Das Gesamtensemble im Überblick: Links das Schrankenwärterhaus, rechts das Wohnhaus mit der Linde daneben, davor links der Schweinestall und rechts die Garage, rechts davon schwach zu erkennen der Hühnerstall, im Vordergrund der Garten. Das Backhaus denken Sie sich bitte als rostige Wellblechbude links neben dem Hühnerstall, also von hier aus gesehen hinter der Garage.)

Ich liebte den Rischenkrug, auch wenn seine große Zeit längst vorüber war: Schweine, und Hühner gab es dort schon lange nicht mehr, nur noch eine Katze, die mittags die Reste vom Essen bekam; die Nebengebäude dienten der Aufbewahrung von Brennholz und allerlei Gerümpel, mein Großvater konnte sich schlecht von Sachen trennen, wer weiß, wozu man es noch gebrauchen konnte. Dadurch gab es für uns Kinder immer was zu entdecken.

Das Haus hatte weder Zentralheizung noch ein Bad mit fließend Warmwasser, wie es für uns heute selbstverständlich ist. Im unteren Geschoss wurde mit Holzöfen geheizt, im oberen gab es immerhin eine elektrische Nachtspeicherheizung. Die Öfen übten auf mich eine besondere Faszination aus. Im Winter wurde ich ungefähr im Halbstundentakt gemahnt: „Carsten, nicht so viel auflegen!“ In der Waschküche stand ein großer holzbefeuerter Waschkessel, der an Badetagen (also einmal in der Woche) angeheizt wurde. Dann wurde das warme Wasser mit dem Eimer in eine lange Zinkwanne gegossen, in der wir dann nacheinander badeten.

Besonders angetan war ich von der Bahnlinie und den Schranken, auch wenn nur noch sehr wenige Züge fuhren: einer morgens früh gegen sieben, zwei mittags und einer abends um fünf, sonntags gar keiner. Der Zug morgens war anfangs sogar noch mit einer Dampflok bespannt, daher kroch ich, wenn ich die Schrankenglocke hörte, aus dem Bett, ging ans Fenster und war beeindruckt, wenn die große schwarze Lok die Steigung aus Richtung Göttingen heraufgedonnert kam, und groß war die Enttäuschung, wenn es doch nur eine Diesellok war.

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(Dieses Bild entstand lange vor meiner Zeit, aber so ungefähr war es.)

Auch sonst lief ich immer vor das Haus, wenn die Schranken sich senkten, um den Zug zu sehen, zum Missfallen meines Großvaters, wenn wir gerade zu Mittag aßen. Ich bin mir sicher, daher kommt meine heute noch bestehende Begeisterung für die „alte“ Eisenbahn mit Dampfloks, gekurbelten, bimmelnden Schranken, Telegrafenleitungen und dem „Tacktack-tacktack“ verschraubter Schienenstöße.

Die Familie meiner Mutter war aus dem ostpreußischen Elbing geflüchtet, nach dem Krieg kamen sie mit neun Personen, also die Großeltern, meine Mutter und ihre sechs Geschwister in dem Bahnwärterhaus unter. Aus heutiger Sicht unvorstellbar, denn so groß war es nicht. Insgesamt drei Stockwerke: Ganz unten über den Hof die Waschküche, dahinter ein Gewölbekeller für Vorräte, ein weiterer diente in früheren Jahren als Ziegenstall. Den Wohnbereich erreichte man über zwei Außentreppen, eine vorne vom Hof aus, die andere neben der Waschküche zum Hintereingang. Die beiden Eingangstüren befanden sich in einem Vorbau, wo auch die Toilette war, für die die Bezeichnung „Bad“ völlig übertrieben gewesen wäre. Immerhin: Der Vorbau war erst später angebaut worden, zuvor musste man zur Verrichtung der Notwendigkeiten auf den „Donnerbalken“ im Stallgebäude gegenüber dem Hof, was wohl nicht nur nachts und im Winter wenig Anlass bot, dort bei guter Lektüre länger zu verweilen als unbedingt nötig. Das weiß ich nur vom Erzählen, ich selbst kenne das Haus nur mit dem Vorbau und integriertem Klo.

Risch Haus

Hinter dem Vorbau lag die Küche mit holzbefeuertem Herd. Durch die Küche gelangte man ins Esszimmer mit dem großen Tisch, dahinter war die „gute Stube“, wo auch der Fernseher stand. Wenn man dort aus dem Fenster schaute, blickte man direkt auf die Bahngleise.

Von der Küche aus führte eine mit Holzbrettern eingehauste Treppe ins Obergeschoss, wo sich drei weitere Räume befanden: das Zimmer meiner Tante B, in dem früher ein Räucherschrank gestanden hatte (auch das gehörte wohl zum bahnamtlichen Selbstversorgerprinzip), eine Art Gästezimmer, wo wir immer schliefen, wenn wir dort waren, und das Schlafzimmer der Großeltern. Da mein Großvater nicht mehr gut laufen konnte, stand unter seinem Bett ein Nachttopf. Den entleerte er morgens im hohen Bogen aus dem Fenster in den Garten, wo der Sandkasten für uns Kinder war. Offenbar habe ich dadurch keinen Schaden genommen, so früh wie Opa immer aufstand spielte ich noch nicht im Sand.

Einen Dachboden gab es auch, der weitgehend ungenutzt blieb, weil man nur auf recht abenteuerliche Weise durch eine kleine Luke dorthin gelangte, indem man auf die Treppe zum Obergeschoss eine lange Leiter stellte, besonders ängstlich durfte man dazu nicht sein.

Neben dem Haus, bei der Eingangstür vom Hof, stand eine große Linde mit einer hölzernen Sitzbank rund um den Stamm, dort saßen wir im Sommer oft bis in den späten Abend. Auf der Bundesstraße war dann nur wenig Verkehr, aus dem Wald hörte man manchmal ein Käuzchen rufen. „Dann stirbt bald einer“, raunte man. Zum Glück lebten am nächsten Tag alle noch.

Die Großeltern waren herzensgute Leute, fromm, sparsam, geduldig mit uns Kindern, ihre Herkunft am ostpreußischen Klang ihrer Sprache („was-chen?“ – „Lorbas!“) unverkennbar. Auch optisch wie aus dem Bilderbuch: Oma mit klassischem Dutt verbrachte wohl achtzig Prozent ihrer wachen Lebenszeit im geblümten Küchenkittel, Opa trug tagsüber einen grauen Arbeitsanzug, dazu eine alte Eisenbahnermütze, da er früher, lange vor meiner Zeit, bei der Bahn war, nebenan auf der Blockstelle. Ich kannte ihn nur an Krücken gehend, wegen kaputter Hüften. Trotzdem war er immer beschäftigt, im Garten, mit Brennholz sägen oder Ausbessern von irgendwas. „Es gibt immer was zu tun.“ Wenn er mit den Krücken ging, summte er vor sich hin.

Viele Wochenende und manche Schulferien verbrachten wir dort, die meiste Zeit draußen: im Wald und in den Feldern, wo sich die Lerche einige Meter über dem Acker zwitschernd nicht von der Stelle zu bewegen schien. Wir bauten Staudämme im Graben neben dem Bahndamm, der wegen der Gülle vom Bauernhof nebenan immer nach Jauche roch, was uns nicht störte. Ich fing Schmetterlinge und sammelte sie in einem Marmeladenglas mit Luftlöchern im Deckel, ließ sie bald wieder frei, versuchte, Mäuse zu fangen, indem ich nach Opas Anleitung einen Eimer eingrub und ein mit Mehl bestreutes Holzbrettchen über den Rand legte, auf dass sie vom Mehl angelockt mitsamt dem Brettchen hineinstürzten, es kam aber keine. Wir sammelten Kartoffelkäfer und ihre Larven, halfen bei der Kartoffelernte, beerdigten Vögel, die die Katze getötet hatte, machten Feuer, wanderten zum „kleinen Tunnel“, einem schmalen Durchlass durch den Bahndamm nicht weit vom Haus entfernt (es gab auch einen „großen Tunnel“, weiter entfernt und nur über einen fast zugewachsenen Weg neben dem Bahndamm zu erreichen), aßen im Garten Möhren direkt aus der Erde, kurz unter der Schwengelpumpe am Brunnen gereinigt, Pflaumen direkt vom Baum und Erbsen vom Strauch. Nichts lässt Lichter meiner Kindheit heller aufleuchten als das Geruchsgemisch aus Brennnesseln, Jauche und Bahnschwellen und der Geschmack von Erbsen direkt aus der Schote.

Risch Garten

(Mein Bruder und vermutlich Cousin F bei der Kartoffelernte, die Dame im Hintergrund könnte meine Mutter sein.)

 

Risch Blog 3

(Dieses Bild entstand einige Jahre später augenscheinlich an einem Sonntag. Soweit ich mich erinnere war die „Stoffhose“ äußerst kratzig an den Beinen, aber sonntags musste man derartiges Unbill ertragen.)

 

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(Dieses demnach auch. Der Holzschuppen hinter dem linken Stommast ist der ehemalige Hühnerstall, dahinter das ebenfalls ehemalige Backhaus. Ganz rechts der Bahndamm.)

Einmal, ich war nicht weit vom Haus entfernt, sah ich auf dem Weg neben dem Bahndamm einen großen Schäferhund auf mich zulaufen. So schnell ich konnte lief ich zum Haus und über die hintere Treppe hinein. Wie ich später erfuhr, hatte der Hund danach seinen Besitzer, den Bruder des Bauern nebenan, gebissen und schwer verletzt, woraufhin er getötet wurde, also der Hund, nicht der Bruder.

Besonders schön war immer Ostern, wenn die ganze Verwandtschaft am Rischenkrug zusammenkam. Am Samstagabend gabs ein großes Osterfeuer am Bahndamm, das meine Onkel die Wochen zuvor auftürmt hatten und meinem Großvater Gelegenheit verschaffte, diverse Abfälle zu entsorgen, selbst alte Blecheimer wurden von den Flammen verzehrt. Wenn das Feuer runtergebrannt war, rösteten wir an Stöcken in der Glut Kartoffeln. Am Sonntag wurden für uns Kinder im Wald oder im Garten Eier und Osternester versteckt. Das Suchen und Finden war immer ein großes Vergnügen, auch später noch, als ich der Existenz des Osterhasen schon mit gewisser Skepsis begegnete.

Meine Großeltern hatten hatten einen alten Bollerwagen aus Holz. Wenn man die vordere Stirnwand herausnahm, konnte man sich hineinsetzen und ihn mit den Beinen über die Deichsel lenken, wenn er bergab rollte. Der Hof war leicht abschüssig, wenn man den Wagen bis zur Einfahrt an der Straße zog, konnte man sich ungefähr bis zum Hühnerstall rollen lassen, wo er nach weniger als einer Minute zum Stehen kam.

Risch Bollerwagen

(Rechts mein Bruder, die beiden anderen müssten meine Cousins J (links) und F sein, ich bin mir nicht ganz sicher. Im Hintergrund das Schrankenwärterhaus.)

Das machte Spaß, genügte meinem Bruder und Cousin J (oder F) jedoch nicht, sie waren ja auch schon älter und mutiger. Daher zogen sie den Wagen auf dem Feldweg neben dem Schweinestall die Anhöhe Richtung Klein Wiershausen hoch, eine Strecke von mehreren hundert Metern mit einer beachtlichen Neigung. Dann gings los: der Cousin vorne, mein Bruder hinten, ich wurde in der Mitte platziert. Der Wagen nahm Fahrt auf, da er über keine Bremse verfügte immer schneller. Bald verlor der Cousin die Gewalt über die Lenkung und wir kamen vom Weg ab. Mein Bruder sprang ab, der Wagen neigte sich zur Seite und blieb schließlich, abgebremst durch Stachel- und Johannisbeersträucher, am Gemüsegarten stehen. Zum Glück war er nicht umgekippt, daher kamen Mensch und Material nicht zu größerem Schaden, nur die Sträucher büßten einige Zweige ein. Ob es deswegen später noch ein (groß-)elterliches Donnerwetter gab, weiß ich nicht mehr.

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Der Niedergang des Rischenkrugs begann mit der Ankündigung der Bundesbahn, sie beabsichtige, das Haus abzureißen, weil es für irgendwas im Weg war, was auch immer; weder wurde die Straße verbreitert noch erhielt die Bahnstrecke ein weiteres Gleis, im Gegenteil, dazu später mehr.

Die Großeltern und meine Tante kamen unter in einer großen Wohnung nebenan auf Obermanns Hof, in der ganz früher der Bruder des Bauern gewohnt hatte, der mit dem Schäferhund; danach war sie immer wieder an Studenten vermietet worden. Für Großeltern und Tante war das eine erhebliche Verbesserung, hatten sie nun ein richtiges Bad, wo warmes Wasser ohne aufwändiges Anheizen eines Waschkessels aus der Wand floss, und Zentralheizung.

Das alte Haus stand nach dem Umzug ein paar Wochen leer, einmal ging ich mit meinem Großvater durch die leeren Räume. Es war traurig, fast gespenstisch, sogar die beiden Öfen im Erdgeschoss, die ich im Winter so gerne gefüttert hatte, waren weg, nur jeweils ein rundes, dunkles Loch in der Wand darüber kennzeichnete ihre früheren Standplätze.

Den Abriss schilderte mein Großvater so: Zunächst wurden der Vorbau, der Schweinestall und das Backhaus konventionell mit dem Bagger abgeräumt. Für das Haus wählte man – warum auch immer, vielleicht wegen der Bahnstrecke daneben – eine ungewöhnliche Methode: Man fädelte ein langes Stahlseil hindurch, über alle Etagen, und befestigte es an einer Planierraupe. Die Raupe sollte das Seil vom Haus wegziehen und es so zum Einsturz bringen. Das klappte nicht auf Anhieb – beim ersten Anlauf riss das Seil und umherfliegende Teile verletzten einen Arbeiter, so dass der Krankenwagen kommen musste. Danach hatten sie offenbar alles richtig gemacht, das Haus gab nach über hundert Jahren seinen Widerstand auf und stürzte auf den Hof, den Rest erledigte der Bagger. So richtig glauben kann ich das bis heute nicht, das Haus war massiv mit sehr dicken Außenwänden gebaut gwesen, andererseits neigte mein Großvater im Allgemeinen nicht zu Lügenmärchen. Eins weiß ich indes sicher: Es hätte mir das Herz gebrochen, hätte ich es mit ansehen müssen.

Als wir danach das nächste Mal am Rischenkrug waren, bot sich ein trauriges Bild: Auf der Anhöhe, wo das Haus gestanden hatte, stand nur noch die große Linde, von der Sitzbank rund um den Stamm befreit. Nur die Garage und der Hühnerstall waren vom Bagger verschont geblieben, den Garten, der vorerst weiter genutzt wurde, gab es auch noch. Ich war immer noch gerne am Rischenkrug, wenngleich es nun nicht mehr derselbe war wie vorher. Auch auf Obermanns Hof gab es einiges zu entdecken, zusammen mit den beiden Töchtern des Hauses, C, einige Jahre jünger als ich, und D, ein Jahr älter, ein richtiger „Kumpel“. Der Hof hatte seine besten Jahre lange hinter sich, vieles wirkte verfallen, schmutzig, voller Gerümpel. Wobei er immer noch bewirtschaftet wurde, abends kam der Tanklastwagen von der Molkerei und holte die Milch-Tagesproduktion ab.

„Opa Rischenkrug ist gestorben“, sagte meine Mutter, als ich mittags aus der Schule kam, ziemlich plötzlich und unerwartet, wie es in Todesanzeigen heißt. Während die Eltern meiner Mutter bei uns „Oma und Opa Rischenkrug“ genannt wurden, mussten die beiden anderen ohne Namenszusatz auskommen, sie waren einfach „Oma und Opa“. Ich war sehr traurig, mit ihm verschwand ein wichtiger Mensch aus meinem Leben, zudem mein zweiter und letzter Großvater, nachdem der andere schon ein paar Jahre vorher gestorben war, was mich noch mehr berührt hatte, vielleicht weil er und Oma mit bei uns im Haus wohnten und ich ihn daher täglich sah, vielleicht auch, weil das meine erste direkte Konfrontation mit dem Tod gewesen war.

Das nächste, was verschwand, war die Bahnstrecke. Kurz vor der Stilllegung konnte ich meine Eltern nach längerem Quengeln dazu bewegen, einmal mit mir im Zug am Rischenkrug entlang zu fahren, das erste, einzige und letzte Mal. Mein Vater brachte meine Mutter und mich mit dem Auto zum Göttinger Bahnhof, in Dransfeld holte er uns wieder ab. Am Rischenkrug stand er an der Schranke und wir winkten uns bei der Durchfahrt zu, damals konnte man bei Eisenbahnwagen noch die Fenster öffnen.

Nach der Stilllegung wurden als erstes die beiden langen Schranken abgebaut mit der Glocke, die mich so oft vor das Haus gelockt hatte. Die Gleise blieben noch einige Zeit liegen, daneben die Telefonmasten mit den weißen Porzellanisolatoren und den grün oxidierten Kupferleitungen. Das Schrankenwärterhaus fiel bald Vandalismus zum Opfer, aufgebrochene Türen, eingeschlagene Scheiben, selbst hier auf dem Land, wo sonst niemand wohnte und im zufälligen Vorbeigehen seinen Aggressionen freien Lauf ließ; wenig später wurde es abgerissen. Kurz zuvor holte ich mir die große dienstliche Merktafel heraus, die unbeschädigt blieb und heute in unserer Küche hängt.

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Schließlich wurden auch die Gleise und Telefonleitungen entfernt, zurück blieben ein Streifen aus braunem Schotter und alle hundert Meter ein Kilometerstein.

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Nachdem meine Tante, die noch immer bei ihrer Mutter wohnte, ihren künftigen Ehemann kennengelernt hatte, zog sie zu ihm nach Göttingen. Meine Großmutter lebte nun alleine in der für sie zu großen Wohnung. Daher zog sie nach Dransfeld in eine kleinere, nicht weit entfernt von meiner anderen Tante. Als auch das nicht mehr ging, weil sie alleine nicht mehr zurecht kam, zog sie ins Altenheim in Göttingen. Als sie dort schließlich starb, vielleicht etwas plötzlich, aber nicht besonders unerwartet, gab es schon lange keinen Grund mehr, zum Rischenkrug zu fahren, oder was davon noch übrig war.

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Was ist davon geblieben? Laut Karte steht die Garage noch, auch die Linde ist offenbar bislang weder Sturm noch Säge zum Opfer gefallen. Der Garten ging spätestens nach Wegzug meiner Großmutter im angrenzenden Acker eines Bauern aus Klein Wiershausen auf. Auf dem ehemaligen Bahndamm Richtung Göttingen verläuft ein Radweg, die Bahntrasse Richtung Dransfeld, die in einem tiefen Geländeeinschnitt verlief, hat sich die Natur zurück geholt. Den Hof gibt es auch noch, so weit ich weiß nicht mehr als landwirtschaftlichen Betrieb. Die namensgebende Gaststätte ist schon lange geschlossen, schon damals, als wir noch regelmäßig dort waren, kamen nur noch selten Gäste. Nur der kurze Abschnitte der Bundesstraße 3 und die Bushaltestelle heißen noch immer „Rischenkrug“.

Und sonst? Zahlreiche Fotos in Familienalben, die Merktafel von „Posten 119“ in unserer Küche, und viele Erinnerungen an glückliche Kindheitstage, die hiermit notiert und festgehalten sind, mit allen Unzulänglichkeiten, die Erinnerungen nach bis zu fünfzig Jahren aufweisen.