Vorbemerung: Aus gegebenem Anlass ist dieser Rückblick etwas umfangreicher als gewohnt geraten. Ich bitte um Verständnis.
Montag: Die erste Nacht in Büsum schlief ich gut. Mit dem Hotel bin ich weiterhin sehr zufrieden: Neben Seeblick vom Balkon und Jackenhaken im Zimmer verfügt es über einen angenehm großen, ruhigen Frühstücksraum mit umfangreicher Auswahl und ausreichend großen Saftgläsern. Wer über ein nicht mehr ganz modernes Bad in beigebraunem Design mit feuchtraumtypischer Patina in Fliesenfugen hinwegsehen kann, dem empfehle ich es. Noch ein Vorzug: Frühstück gibt es bis zwölf Uhr.
Nach einem für meine Verhältnisse umfangreichen Frühstück unternahm ich die erste Wanderung: über den Deich nördlich bis Hedwigenkoog, von da durch die Marsch über Westerdeichstrich zurück nach Büsum. Die Wanderung endete am Büsumer Hafen, wo ich für morgen eine Schiffsfahrkarte nach Helgoland erstand, anschließend suchte ich eine nahe Gaststätte auf für das Belohnungsbier, dazu statt Currywurst eine Krabbensuppe.
Zwischen Hedwigenkoog und Westerdeichstrich ging ich an zahlreichen Windrädern vorbei. Gewiss, eine Zierde für das Landschaftsbild sind sie nicht, aber es hilft ja nix – Wir wollen Bahnfahren, künstliche Inkompetenz nutzen und Pornofilme striemen, gleichzeitig das Klima schützen; irgendwoher muss der Strom ja kommen, und wo wenn nicht hier sollte man die Dinger hinbauen. Und wer weiß, vielleicht wird man sie dereinst, wenn dieses Blog und sein Schreiber längst verstummt sind, mit ähnlich romantischen Gefühlen betrachten wie heute die Windmühle von Westerdeichstrich, vielleicht stellt man die letzten Exemplare unter Denkmalschutz und sagt einander: Stell dir vor, so wurde früher Strom erzeugt.
Erstmals kam ich den Windrädern richtig nahe, sonst sieht man sie ja immer nur beim Vorbeifahren mit dem Auto oder der Bahn. Dabei interessierte mich, welche Geräusche sie machen, die ja häufig, neben der Optik, als Argument gegen das Aufstellen genannt werden. Ja, man hört sie schon, ein gleichförmiges Flap – flap – flap im Takte der Rotorblätter. Andererseits nicht lauter als das Rauschen von Blättern bei Wind oder Meeresgetöse. Warum deshalb ein Mindestabstand zu Wohngebäuden einzuhalten ist, erschließt sich mir nicht.
Der Prototyp solcher Anlagen mit dem schönen Namen „Growian“ (für „Große Windenergieanlage“) stand übrigens in den Achtzigern gar nicht weit von hier im Kaiser-Wilhelm-Koog; Näheres dazu ist bei Interesse hier nachzulesen. Witzig: Mit dem Growian sollte vor allem der Beweis erbracht werden, dass die Windenergieerzeugung mit so großen Anlagen nicht funktioniert.
Wie stets auf Wanderungen, so auch hier: Sobald man eine gewisse Siedlungsdichte hinter sich gelassen hat, grüßt man einander bei der Begegnung, egal ob zu Rad oder zu Fuß. Hier mit dem üblichen „Moin“ zu jeder Tageszeit, was mir sehr sympathisch ist.
Das Wetter zeigte sich auch heute angenehm: Die Sonne schien, dazu ein anhaltender Wind, in der leichten Daunenjacke gut auszuhalten, zeitweise fast schon etwas zu warm.
















Dienstag: Etwa eine Stunde vor dem Wecker wachte ich auf und schlief nicht mehr ein. Ob das wieder diese seltsame Unruhe vor Reisen war oder andere Gründe hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls stand ich um kurz nach sieben gut gelaunt und ausgeschlafen auf. Nach dem Frühstück und Zeitungslektüre begab ich mich gemütlich zum Hafen, wo um halb zehn die Funny Girl nach Helgoland ablegte. Da der Wind kühl blies, verzogen sich die meisten Fahrgäste ins Innere, ich hingegen blieb mit wenigen anderen, unter anderem einem augenscheinlich extremverliebten jungen Paar*, das vermutlich schon aufgrund innerer Wallungen keine Kälte spürte, auf dem Außendeck und genoss die Fahrt. Erst als das Büsumer Hochhaus hinter der Erdkrümmung verschwunden war, immerhin anderthalb Stunden nach dem Ablegen, wärmte auch ich mich im Unterdeck etwas auf. Dort las ich im SPIEGEL den Titelartikel über das Erstarken der Christextremisten in Amerika mit Unterstützung ihres (nicht ganz so christlichen) Präsidenten und gruselte mich angemessen. Wenn sich das, wie so vieles aus Amerika, auch bei uns irgendwann ausbreitet, dann gute Nacht.
*Ich weigere mich, hierfür das Wort „Pärchen“ zu benutzen. Ein Paar besteht aus genau zwei Personen, nicht eine mehr oder weniger. Was soll ein Pärchen sein? Eineinhalb, eindreiviertel?
Nach zweieinhalb Stunden Fahrt erreichten wir Helgoland. Das letzte Mal war ich dort vor über vierzig Jahren. Damals mussten die Schiffe noch vor dem Hafen festmachen, die Fahrgäste wurden ausgebootet. Dazu mussten sie umsteigen in kleine schaukelnde Motorboote, die sie an Land brachten und zur Rückfahrt wieder zurück zum Schiff. Das ging so bis zur Corona-Zeit, wie ich heute erfuhr. Dann konnten in den Booten die Abstandsregeln nicht eingehalten werden, plötzlich konnten die Schiffe am Kai anlegen und ganz normal über eine Gangway verlassen werden. Die Bootsbetreiber mussten sich was anderes einfallen lassen, um die Touristen auszubooten.
Ohne besonderen Plan ließ ich mich treiben, spazierte durch die untere und obere Siedlung sowie über den Klippenweg, was man als Helgoland-Tagestourist so macht, das war sehr angenehm. Der kühle Wind ließ nach, zwischendurch zeigte sich die Sonne und es wurde warm. Die Insel erscheint wie in eine andere Welt, allein schon durch die fast völlige Abwesenheit von Bäumen. Ob ich dort länger als einen Tag verweilen wollte, weiß ich nicht, ganz ausschließen möchte ich es nicht; auf einen Versuch käme es an.
Nach zwei Stunden Treibenlassens verspürte ich jähen Heißhunger auf ein Fischbrötchen, die dort an mehreren Verkaufsstellen angeboten werden. Nachdem das Brötchen verzehrt war, blieb noch eine gute Stunde Zeit bis zur Rückfahrt. Diese verbrachte ich überwiegend untätig sitzend, während am Horizont große Frachtschiffe unseren Konsum und Wohlstand durch die Gegend fuhren, was überhaupt nicht langweilig war. Das nennt man wohl inzwischen Rawdogging, wie ich neulich las; ich beherrsche es gut.
Auch die Rückfahrt verbrachte ich zunächst auf dem Außendeck und sah Helgoland beim Kleinerwerden zu. Nach einer Stunde ging ich rein und wärmte mich äußerlich wie innerlich, letzteres mit einem Pharisäer, eine friesische Spezialität aus Kaffee, Sahne und einem kleinen Schuss. (Jägermeister und andere Spirituosen laufen in der Bord-Karte übrigens unter „Miniaturen“.) Am frühen Abend erreichten wir wieder Büsum, wo ich sogleich ein Restaurant am Hafen aufsuchte. Wieder ein richtig schöner Tag.













Mittwoch: Auch heute war ich schon gegen sieben Uhr hellwach, obwohl keine Reise oder sonstige Termine anstanden. Vielleicht ist das diese präsenile Bettflucht, das Alter hätte ich langsam. Nach einem wieder ausführlichen Frühstück wanderte ich, und zwar zunächst durch den Hafen, dann über die mehr oder weniger zugewachsenen Gleise der Hafenbahn bis zum alten Deich. Diesen erklomm ich, dann weiter über Deichhausen bis zum Vogelschutzgebiet Wöhrdener Loch. Dort verließ ich die (von Schafen vollgekackte) Deichkrone, kratzte mit einem Stöckchen die Schafsch… aus den Schuhsohlen und ging hinter dem Deich zurück bis Warwerort, dann durch die Felder zurück nach Büsum.
Eines der Dinge, die ich mir für diesen Urlaub vorgenommen hatte, war eine Wattwanderung, oder wenigstens ein Wattspaziergang, wie es sich gehört barfuß. Das erledigte ich direkt im Anschluss. Die Flut hatte schon wieder begonnen, doch es stand noch genug frei begehbare Fläche zur Verfügung. So ging ich bis zur Wasserlinie und war überrascht, wie warm die Nordsee noch ist. Nachdem ich wieder an Land war und die Füße an einer der Fußbrausen gereinigt hatte – vorsorglich hatte ich morgens ein Handtuch eingepackt – ging ich in die Stadt und kaufte Postkarten, die ich umgehend bei einem Nachmittagsgetränk in einer Gaststätte beschriftete und noch am Abend in den Briefkasten einwarf. Dass ich voraussichtlich früher in Bonn zurück bin als die Karten bei den Empfängern nehme ich in Kauf, sie freuen sich hoffentlich trotzdem darüber.
Abendessen beim Griechen. Am Nebentisch ein Paar, sie redete ununterbrochen. Vielleicht erwägt er auch, demnächst mal alleine Urlaub zu machen. Eine Anmerkung zum Alleinreisen: Mehrere, denen ich vor dem Urlaub davon erzählte, fragen: „Alleine? S. (der Liebste) kommt nicht mit?“ – Warum denn nicht allein? In einer Partnerschaft zu lebten bedeutet nicht, alles gemeinsam tun zu müssen. Zumindest für uns gehört es dazu, dem anderen seine Freizeiten und -heiten zu erlauben. Und ich weiß von mindestens drei Frauen – interessanterweise alles Frauen – die regelmäßig ohne den Gatten verreisen und ohne, meines Wissens jedenfalls, dass eine Beziehungskrise vorliegt. Letztlich gibt es auch hier, wie in so vielen Dingen, kein Richtig oder Falsch. Die einen können keine zwei Stunden ohne Partner sein, die anderen genießen vorübergehende Alleinzeit sehr.














Donnerstag: Am letzten Urlaubstag (morgen zählt nicht, dann ist Abreise) schlief ich länger. Als möglicher Programmpunkt stand noch eine Bahnfahrt nach Neumünster auf der Liste. Die Nebenbahn von Heide nach Neumünster bereiste ich in den Achtzigern mehrfach, weil dort noch die alten roten Schienenbusse fuhren, jede Station war mit Bahnpersonal besetzt, dazu die damals schon historische, mechanische Stellwerks- und Sicherungstechnik, somit toll für Eisenbahnfreunde wie mich, ansonsten ohne Zukunft. Ein sicheres Zeichen für die baldige Stilllegung. Doch es kam anders: Die Strecke wurde umfassend modernisiert, heute fahren, batterieelektrisch, mehr Züge als je zuvor. Hier wollte ich gerne nochmal fahren.
Stattdessen entschied ich mich für einen planlosen Schreib- und Drömmeltag mit lange im Bett bleiben und ausgiebigem Frühstück. („Ausgiebig“ ist auch so ein seltsames Wort. Man gibt ja nichts aus, im Gegenteil, man nimmt ein. Egal.) Nach dem Frühstück ging ich gemütlich auf dem Deich bis zur Hafenmole, dann am Strand entlang in die andere Richtung bis zur Perlebucht, ein künstlich angelegter Sandstrand unterhalb des Hochhauses. Überhaupt ging ich wieder sehr viel in den zurückliegenden Tagen. Auf der Liste der Fertigkeiten, deren Ausfall meine Lebensqualität am stärksten beeinträchtigen würde, steht Gehen sehr weit oben, gleich nach Sehen.
Dort, in der Perlebucht, wollte ich mir eine freie Bank suchen und was schreiben. Die fand ich auch, allerdings blies mich heftiger Wind von der Seite an. Daher versuchte ich, einen Strandkorb zu mieten, ein paar standen da noch. Elf Euro Tagesmiete fand ich nicht zu viel, selbst wenn ich ihn nur drei Stunden genutzt hätte. Doch leider waren sie nicht mehr zu mieten, da sie heute abgeholt würden, wurde mir beschieden. Ich fand dann doch noch ein angenehmes Pläzchen zum Schreiben, erst auf einer Bank, dann in einer Außengastronomie, wo noch ein Tisch frei war. Während ich saß und schrieb, griffen mehrere Möwen den Nebentisch an, wo gerade Pommes gegessen wurden, mit Geschrei von beiden Seiten.
Nachdem ich genug geschrieben hatte, unter anderem dieses, trat ich den Rückweg an, und zwar, weil es gestern so schön gewesen war, nochmals barfuß durch das Watt. Beim Queren eines Priels und Durchschreiten der Wasserlinie wunderte ich mich erneut, wie warm mir das Wasser vorkam.
Zum Abendessen bestellte ich Fisch, wieder versuchte ich mir wider besseren Wissens einzureden, frisch aus der Region. Es schmeckte jedenfalls passabel, somit scheint es funktioniert zu haben. Danach mit Wehmut eine letzte Runde durch den Ort, schließlich im Hotel den Koffer gepackt.
Büsum ist auch zu dieser Jahreszeit gut besucht. Der Altersschnitt ist gehoben, die Dichte an Rollatoren und Klapp-Telefonhüllen recht hoch. Ab einem gewissen Alter tragen einige Herren eine Mütze, die aussieht wie eine Baseballkappe, nur flacher und ohne Schirm, scheint was Regionaltypisches zu sein wie früher das Finkenwerder Fischerhemd, das ich zum Erstaunen in keinem Laden mehr gesehen habe. Vielleicht hätte ich mir nochmal eins gekauft.
Auch die Mitbloggerin Kaltmamsell ist weiterhin auf Reisen. Dabei notiert sie kluge Gedanken:
FOMO (fear of missing out, also Angst, etwas zu verpassen) kenne ich ja nicht. Meine Motivation ist oft fear of regret, also Angst, dass ich mich später darüber ärgere, etwas nicht gemacht zu haben. Oder überhaupt die Befürchtung, mich rückblickend zu ärgern. Das führt zum Beispiel zu sorgfältiger Planung von fast allem, denn ich möchte mich nicht ärgern, weil ich etwas vergessen oder übersehen habe.
So frage ich mich auch nie, was ich eigentlich gerade will (woher soll ich das wissen?!). Statt dessen versuche ich mir vorzustellen, die Erinnerung woran, die Rückschau worüber mir Freude bereiten wird. Ich behaupte mal, dass ich damit vielleicht nicht die Mehrheit, aber sicher nicht allein bin.
Nein, ist sie nicht.





Freitag: Am Abreisetag wachte ich eine Stunde vor dem Wecker auf, den ich mit reichlich Zeitpuffer eingestellt hatte, ich kann da nicht aus meiner Haut. Ich schlummerte dann doch nochmal ein. Im Vergleich zu den Vortagen war der Frühstücksappetit gering, was auch an der frühen Stunde gelegen haben mag. Nach einem letzten Blick vom Balkon über den Deich bezahlte ich das Zimmer und ging langsam zum Bahnhof, von leichtem Abschiedsschmerz begleitet. So hat ein jeder sein Köfferchen zu rollen.
Aufgrund des Zeitpuffers verließ ich Büsum eine Stunde früher als notwendig. Das war nicht schlimm, in Heide fand ich auf dem Bahnsteig ein sonniges, windgeschütztes Plätzchen, wo ich die Zeit mit Blogs Lesen verbrachte. Neben mich setzte sich eine Dame mit Koffer, Rucksack und großer Tasche und begann umgehend, intensiv darin zu kramen. Mich machen solche Leute immer wahnsinnig.
Der Intercity fuhr pünktlich in Heide ab und kam mit gerade mal fünf Minuten Verspätung in Köln an, da gab es nichts zu klagen. Durch den Wagen ging ein kleiner Junge und sagte „Blablablablabla …“. Wenn er mal groß ist und vielleicht in einem großen Unternehmen arbeitet, wird er andere Worte gebrauchen, um sinngemäß das gleiche zu sagen.
Bei Ankunft in Bonn wehte kühler Wind, der Himmel war trüb und ein paar Regentropfen fielen. Für die Küste wird morgen Sturm erwartet. Eine Fahrt nach Helgoland dürfte interessant werden.
Nach fünf Tagen Alleinzeit ist es wieder schön, daheim bei den Lieben zu sein. Abends gingen wir ins Wirtshaus, wo ich, um die norddeutsche Woche abzurunden, Fisch und Jever-Pils bestellte. Dithmarscher Dunkel gibt es hier leider nicht.

Samstag: Der Tag begann mit heftigem Regen. Ein Trost, wenn auch nur ein äußerst schwacher: In Büsum regnete es auch. Nachmittags lockte mich die Sonne zu einem Spaziergang an den Rhein. Ein Tag ohne Gehen ist wie ein … ohne … – ach denken Sie sich einfach irgendwas aus.
Mindestens eine der am Mittwochabend eingeworfenen Postkarten kam heute an, wie mir dankend mitgeteilt wurde. Da behaupte niemand, die Post sei langsam.
Laut Zeitungsbericht traf sich kürzlich in Bonn auf einer Wiese eine größere Gruppe junger Leute, um Pudding zu essen, und zwar mit einer Gabel. Warum tun die das, vor allem: Warum berichtet die Zeitung darüber?

Sonntag: Tief Detlev bläst seit gestern durch das Land, für die Küste besteht Sturmflutwarnung. Auch in Büsum ist die Nordsee deutlich aufgewühlt, wie über die örtliche Webcam zu beobachten ist. Einerseits freue ich mich über das Glück, das ich dort mit dem Wetter hatte, andererseits wäre ich gerne noch dort, es ist bestimmt beeindruckend, das Tosen aus der Nähe zu erleben.


Ansonsten verbrachte ich wesentliche Teile des Tages auf dem Sofa, unterbrochen durch den üblichen und notwendigen Spaziergang am Nachmittag. Hier und da ist noch Außengastronomie geöffnet, doch vermochte sie mich nicht zum Verweilen zu locken.

***
Danke, dass Sie bis hierhin durchgehalten haben. Für die nächsten Rückblicke ist wieder die gewohnte Kürze angestrebt. Kommen Sie gut durch die Woche.
17:00



