Der Regelzustand ist auch nicht schlecht

Den nachfolgenden Aufsatz schrieb ich erstmals im August 2010. Da die darin geäußerten Gedanken weiterhin aktuell sind, erlaube ich mir, ihn aus gegebenem Anlass leicht überarbeitet erneut Ihrer gefälligen Kenntnisnahme anheimzustellen.

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Zwei Wochen Provence neigen sich dem Ende zu. Nachher werden wir anfangen, unsere Sachen zu packen und Wein ins Auto schleppen, den wir hier gekauft haben; morgen früh fahren wir zurück nach Bonn mit der üblichen Schwere im Herzen. Dieses Mal fällt mir der Abschied besonders schwer, allein schon wegen des schönen Hauses mit dem großen Garten oberhalb von Malaucène.

Das Haus
Lieblingsplatz

Und wieder klingt leise die Frage an: Wäre es nicht schön, hier zu leben, für immer hier zu bleiben? Es gibt einiges, was dafür spricht: das Wetter, wobei es auch hier sehr kalte Winter und heftige Unwetter gibt; freundliche Menschen, vieles läuft scheinbar entspannter ab als in Deutschland; guter Wein und gutes Essen; die Landschaft, malerische Städte und Dörfer; die Aufzählung ließe sich lange fortsetzen.

Die Antwort auf diese Frage ist: Nein.

Urlaub ist ein vorübergehender Ausnahmezustand, zur Erholung, wo man räumlichen wie innerlichen Abstand sucht und findet vom Alltag, von der Arbeit und sonstigen Verpflichtungen, denen man teils freiwillig, teils gezwungen unterliegt. Dieser notwendige Ausnahmezustand ist aufgehoben, wenn man hier auf Dauer lebt, auch hier muss man von irgendetwas leben und kann nicht seine Tage lesend und faulenzend im Garten verbringen, wie es nur im Urlaub möglich ist. Es sei denn, eine Erbschaft, ein Lottogewinn oder die üppigen Tantiemen eines Bestsellers schaffen die Unabhängigkeit von einem Arbeitgeber. Da ich meines Wissens nicht über reiche und dazu erbenlose Verwandte verfüge, nicht Lotto spiele und meine Schreibkünste sich in überschaubaren Grenzen halten, muss ich weiterhin ein paar Jahre arbeiten.

Und selbst wenn doch: der Alltag verlagerte sich dann vom scheinbar kalten, unfreundlichen und hektischen Deutschland nach Südfrankreich. Irgendwann verlangt der Geist erneut nach einem Ausnahmezustand. Vielleicht sehnt er sich dann nach ein paar Wochen im Rheinland, oder gar in Ostwestfalen, wer weiß.

Ja, die Städte und Dörfer hier mit ihren alten Natursteinhäusern, Straßencafés und Bistros unter Platanen, umgeben von einer wunderschönen Landschaft aus unbeschreiblichen Farben, darüber ein (meistens) blauer Himmel, dies alles gibt einem das Gefühl, an einem Ort zu sein, der schöner nicht sein kann. Und doch ist es nur eine Fassade für gelungene zwei bis drei Wochen Urlaub; hier auf Dauer zu leben, brächte voraussichtlich keine dauerhafte Steigerung meiner Lebenszufriedenheit.

Am Toulourenc
Farben bei Entrechaux

Schon die Sprache: Ich spreche (leider immer noch) nicht gut französisch, und selbst wenn ich es endlich lernte, was ich zwangsläufig müsste, so könnte ich mich hier verständlich machen, mich mit den Menschen unterhalten, also Unterhaltung im Sinne eines Gesprächs, das über den Kauf eines Baguettes oder die Bestellung eines Bieres hinaus geht; dies jedoch, so gut ich es auch lernte, niemals so, wie ich mich daheim mit Freunden, Nachbarn, Kollegen und Familie unterhalten kann, mit allen Feinheiten und allem Sprachwitz, die nur die Muttersprache bietet. Das wäre für mich eine erhebliche Einbuße an Lebensqualität.

Menschen wie Peter Mayle haben ihr Glück gefunden, indem sie dauerhaft in der Provence sesshaft geworden sind; für mich kommt das nicht in Frage. Gerne komme ich hierher, um den ein- bis dreiwöchigen Ausnahmezustand zu genießen, doch freue ich mich danach wieder auf mein Zuhause in Bonn. Auch dort gibt es (mittlerweile zu) warme Sommer und schöne Orte, allein schon die Südstadt und mein Lieblingsplatz am Rheinufer vor Oberkassel; zudem eine Wohnung in ruhiger zentraler Lage immerhin mit einem Balkon. Und Menschen, die ich kenne, die ich mag, mit denen ich mich gerne umgebe, uneingeschränkt sprechen kann. Radio Nostalgie kann man dank Internet inzwischen auch in Deutschland hören.

Fazit: Der Ausnahmezustand ist wunderschön, der Regelzustand jedoch auch nicht schlecht.

Ein Gedanke zu “Der Regelzustand ist auch nicht schlecht

  1. Wolfram Juni 20, 2023 / 23:08

    Willy Fritsch besang einst den Traum von den Fidschi-Inseln: „ich bin der Fritsche, will ein Fidsche sein!“ Und mein Großvater sagte voller Sehnsucht: „Willst du glücklich sein, so wohne am Meer und fern von aller Verwandtschaft!“
    Der Traum ist schön, wenn er einer bleibt.
    Ich habe einige Jahre dort gelebt, wo andere Urlaub machen: bei Royan, nicht weit von der Insel Oléron. Und es war gut – für eine begrenzte Zeit. Aber ich bin ohne Reue wieder weitergezogen.
    Und viele, die sich für die Rente dort angesiedelt haben, wo sie ihre schönsten Urlaube verbracht hatten, wurden enttäuscht, einige sind wieder fortgegangen.
    Die gleiche Beobachtung machten meine Eltern in Ostfriesland. Es liegt gar nicht mal an der Sprache. Aber man sollte sich nicht in einer Gegend ansiedeln, die man nur in der Hauptsaison kennengelernt hat. Ostfriesland im November oder Februar ist trüb und naß, und die Saintonge nicht minder. Auch die Mentalität der Ureinwohner ist wichtig. Nicht alles paßt zueinander. Typisch rheinische Jovialität liegt nicht jedem, die sowohl in Ostfriesland als auch in der Saintonge gepflegte „zurückhaltende Herzlichkeit“ aber auch nicht. Man paßt sich an, fügt sich ein – oder bleibt isoliert. Ja, und wenn dann noch eine Sprachenhürde dazukommt (die ich weder in Frankreich noch in Deutschland habe, ich lerne auch Akzente und Dialekte recht schnell – aber schon in Großbritannien würde es schwierig, in Italien wäre ich verloren), dann wird aus der Verwirklichung eines Traums ein verwegenes Himmelfahrtskommando.

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