Wir sollten nicht länger Sie sagen

Am Anfang war das Du. Mit dem Privileg kleiner Kinder duzten wir bis etwa fünf alle Menschen, von Nachbarn über die Kindergärtnerin bis hin zum Bundespräsidenten, sofern er sich zufällig in unserer Umgebung aufhielt. Das änderte sich erst mit Erreichen des Schulalters, nun musste das Kind lernen, dass Erwachsene, sofern nicht dem Familienkreis zugehörig, insbesondere Lehrer, mit „Sie“ anzusprechen sind, was insofern ungerecht anmutete, als dass die derart angesprochenen das Kind selbstverständlich weiterhin duzten.

Bis zur Oberstufe: Plötzlich siezte der Lehrkörper zurück. Mit besonders verstörender Konsequenz ging dabei Frau K vor, unsere Lateinlehrerin. Bis zum Ende der zehnten Klasse duzte sie uns, dann, nach den Sommerferien, ging sie sprachlich auf Distanz, wovon sie sich auch auf Nachfrage und dem Angebot unsererseits, die bisherige Anrede beizubehalten, nicht abbringen ließ. Ansonsten war Frau K aber ganz in Ordnung, streng und gerecht.

Auch im Posaunenchor, in dem ich seit dem Konfirmandenalter blies (so sagte man damals und sagt es vermutlich noch heute), war es selbstverständlich, dass wir Jungen die Alten siezten und sie uns duzten, und ich sah keinen Anlass, dies zu hinterfragen oder gar dagegen aufzubegehren, warum auch. Diesen Umstand adoleszenter Asymmetrie nahm ich bis etwa achtzehn unwidersprochenen mit derselben Selbstverständlich hin wie den Wechsel der Gezeiten im Nordsee-Urlaub oder meine krummen Füße. Dann geschah etwas Unerwartetes: Der Vater eines mir in etwa gleichaltrigen Bläserfreundes trat dem Posaunenchor bei. Mit dem gewohnten „Herr Schröder*“ angesprochen, antwortete er: „Ich heiße Werner*, du kannst ruhig du zu mir sagen.“ Auf geradezu revolutionäre Weise öffnete er mir die Augen: Warum musste ich, der mittlerweile zum Führen eines Kraftfahrzeugs und zur Bundestagswahl berechtigt war, immer noch die Alten siezen, während sie mich wie einen Schuljungen ansprachen? Doch es dauerte nicht sehr lange, einer nach dem anderen Alten starb entweder oder folgte Werner Schröders Beispiel und bot uns jungen das Du an. Der Bläserfrieden war wieder hergestellt.

Nach dem Abitur, während der Ausbildung, nahm ich es noch hin, wenn mich die älteren Kollegen duzten, während ich vorsichts- oder anstandshalber beim Sie blieb, es sein denn, sie boten das Du ausdrücklich an. Nach der Ausbildung duzte ich konsequent zurück, auch die Kollegen, die ich zuvor noch gesiezt hatte. Niemand beschwerte sich darüber.

Manchmal fühlt sich das Sie falsch an, vielleicht weil man jemanden schon sehr lange kennt und nur noch keiner den Anfang gemacht hat, wobei es ja viele Abhandlungen darüber gibt, wer das Du anbieten darf: der Ältere? Der in der Hierarchie „höher“ stehende? Der mit der längeren Firmenzugehörigkeit? Der mit dem größeren Auto oder was auch immer? Hierdurch kommt es manchmal zu merkwürdig-umwegigen Formulierungen, etwa „Welches Urlaubsziel beabsichtigt man aufzusuchen?“ anstatt „Wohin fährst du / fahren Sie in den Urlaub?“. Mein alter Kollege Günther K, der jahrelang im Postamt Heepen hinter dem Schalter saß und die meisten Kunden kannte, bediente sich deshalb der meines Wissens ostwestfälischen Anredeform des „Ihrzens“, etwa so: „Habt ihr euren Ausweis dabei?“ oder „Hier müsst ihr noch unterschreiben.“

Schwierig wird es, wenn man nach jahrelangem Sie auf Du übergeht. Entweder siezt man erstmal versehentlich weiter („Ach nein, wir sind ja jetzt beim Du, ha ha, also: Kommst DU mit in die Kantine?“), oder man bedient sich vorläufig oben genannter Ausweichformulierungen, so lange, bis man sich endlich an die neue Anredeform gewöhnt hat und es sich nicht mehr falsch oder zumindest ungewohnt anfühlt.

Manche Menschen möchte man gar nicht duzen, und das muss keine Frage der Sympathie sein. Mit Herrn L, meinem früheren jahrelangen Chef, pflegte ich ein sehr gutes Verhältnis, und doch blieb er mit allen Mitarbeitern seiner Abteilung stets sprachlich auf Distanz, was völlig in Ordnung war. Käme er heute auf die Idee, mir das Du anzubieten, so wäre das sehr irritierend und es würde lange dauern, bis ich davon Gebrauch machte.

Was für Menschen gilt, gilt erst recht für Firmen. So nehmen sich IKEA, Apple und einige andere seit Jahren das Recht heraus, ihre Kunden, also auch mich, großflächig zu duzen, obwohl ich es ihnen nie angeboten habe und mich auch nicht veranlasst sehe, es jemals zu tun, weil es sich so falsch anfühlt wie nur etwas falsch sein kann, auch wenn es in Schweden und Amerika diesen feinen Unterschied nicht geben mag.

Eine Sonderform davon ist das Gewerkschafts-Du. Ich halte Gewerkschaften für gut und richtig, und auch wenn ich nicht gerade ein Aktivist bin, gehöre ich seit Jahren einer an. Das einzige was mich stört, ist die Anrede „Lieber Kollege K“ und das Geduze in ihren Schreiben, wenn sie zur nächsten Versammlung des Ortsverbandes einladen (wo ich nie hingehe) oder über die erzielten Ergebnisse der letzten Tarifverhandlungen informieren.

Eine weitere Sonderform ist das Seminar-Du, welches für die Dauer der Veranstaltung Vertraulichkeit vorgibt, sich meistens jedoch im anschließenden Alltag der täglichen Geschäfte wieder in Sie auflöst. Es sei denn, man arbeitet in Firmen wie dem Otto-Konzern, wo hierarchieübergreifendes Du seit einiger Zeit von oben angeordnet ist. Ob man das gut oder schlecht findet, mag jeder für sich entscheiden. Mir käme ein „Hallo Jürgen“ jedenfalls nur sehr schwer über die Lippen, wenn ich meinen Vorstand im Aufzug treffe. Was sollte er darauf auch antworten, da er meinen Namen mit einigermaßen hoher Wahrscheinlichkeit nicht kennt, was mir nicht nachteilig erscheint.

Inzwischen reicher an Jahren, kann ein unvereinbartes Du jedoch durchaus schmeichelhafte Wirkung in mir entfalten, nämlich dann, wenn es von der wesentlich jüngeren Bedienung in der Kneipe oder der jungen Kassenkraft bei H & M kommt. Danach fühle ich mich gleich ein paar Jahre jünger.

Gar nicht so einfach war übrigens der Wechsel in die vertrauliche Anredeform mit einem Kollegen aus der Marketingabteilung vor einigen Jahren. Wir arbeiteten schon lange und gut zusammen, unser persönliches Verhältnis war vom Lichte gegenseitiger respektvoller Sympathie beschienen. Er war etwas jünger als ich, daher war es an mir, den ersten Schritt zu tun. Das Problem: Der Kollege war Chinese und sein Nachname lautete Du**. Was also sollte ich sagen? „Wollen wir nicht Du sagen?“ ging ja schlecht, wollte ich nicht die Antwort „Ja was denn sonst?“ riskieren. Mit der etwas ungelenken Formulierung „Wir sollten nicht länger Sie sagen“ fanden wir dann aber doch noch zueinander. Kurz danach ging er zurück nach China, einen Zusammenhang schließe ich indes aus. Ab welchem Alter chinesische Kinder ihren Bundespräsidenten siezen, entzieht sich meiner Kenntnis.

Übrigens (oder by the way, wie eine ansonsten sehr geschätzte Freundin hier sagen würde): Ich werde Sie, liebe Leserinnen und Leser, hier weiter siezen, das gebietet der Anstand. Wir kennen uns ja kaum.

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* (Name geändert)

** (Name nicht geändert)

4 Gedanken zu “Wir sollten nicht länger Sie sagen

  1. Mrs Postman Juni 8, 2017 / 23:56

    Das Sie ist irgendwie schräg, wenn man näher drüber nachdenkt, da man den anderen in der Mehrzahl anredet.
    Ansonsten danke ich für diese überaus erbauliche Abhandlung, (Herr Du erzeugte einen lauten Lacher) 😊

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    • stancerbn Juni 9, 2017 / 07:09

      Stimmt, das mit der Mehrzahl irritierte mich als Kind auch: „Warum sagt Mama jetzt Sie zu dem? Da ist doch nur einer.“

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  2. Solminore Juni 12, 2017 / 11:22

    Irgendwann zwischen dem achtzehnten und einundzwanzigsten Semester fiel mir auf, daß mich neue Kommilitonen nicht länger duzten. Da wurde mir klar, daß nun vielleicht auch für mich so langsam die Zeit gekommen sei, den Abschluß zu machen.

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