Woche 40/2023: So langsam wird das was mit dem Herbst

Montag: Morgens schwirrten mindestens fünf, wenn nicht sechs Wespen durch das Bad, nachdem sie durch das gekippte Fenster eingedrungen waren. Vielleicht war es ihnen draußen zu kalt, wofür ich volles Verständnis hätte. Da sie sich überwiegend im oberen Drittel des Raumes aufhielten, kamen wir uns nicht ins Gehege. Auch sonst ließ ich ihnen gegenüber Milde walten, lange haben sie nicht mehr zu leben.

Unterdessen entwickelt sich in Frankreich gerade eine gewisse Hysterie wegen anderer Insekten: Bettwanzen, nach deren Sichtung laut Berichten sogar Züge vorübergehend außer Betrieb genommen werden.

Es gibt übrigens Wanzenpflanzen, wie bei Wikipedia zu lesen ist. Manches kann man sich einfach nicht ausdenken.

Der Arbeitstag verlief erwartet ruhig, weil die meisten Kollegen entweder Urlaub haben oder einen auf Brücke machten, und er endete zeitig.

Balkonblick, abends

Dienstag: Der Tag der Deutschen Einheit verlief in feiertagsangemessener Ruhe. Beim späten Frühstück auf dem Balkon fielen die ersten Regentropfen auf die Markise, bis in den Nachmittag hinein regnete es stärker; das ließ wohliges, bislang vermisstes Herbstempfinden aufkommen. Nach dem Regen unternahm ich einen Spaziergang auf regennassen, von Blättern und Kastanien bedeckten Wegen durch die Südstadt, wo in unmittelbarer Nähe immer wieder stachelige Kastanienfrüchte zu Boden schlugen, zerplatzten und ihre braunglänzenden Kerne freigaben, auf dass sie von Kindern aufgesammelt oder von Autoreifen zermalmt werden. In den Vorgärten bunt blühende Astern und verblühende Hortensien. Die Kleidung der Menschen ist uneinheitlich: Während die einen noch in T-Shirt und kurzer Hose in den Straßencafés sitzen und ihre Tätowierungen zeigen, haben andere schon die Daunenjacke aus dem Schrank geholt.

Mittwoch: Im lesenswerten Blog von Frau Fragmente las ich das schöne Wort „unterwältigt“ und freute mich darüber. Viel mehr ist über diesen Tag nicht zu berichten, das ist nicht schlimm.

Donnerstag: Gestatten Sie mir einige Zeilen über den nicht-motorisierten Verkehr, die Arten der Fortbewegung, denen meiner unmaßgeblichen Meinung nach der Vorzug zu geben ist gegenüber dem Kraftfahrzeug, auch dem elektrisch betriebenen, weshalb ich für die Bemühungen unserer Oberbürgermeisterin, das Autofahren in der Innenstadt wenigstens für diejenigen, die immer noch aus reiner Bequemlichkeit oder Poserlust das Auto wählen, so unattraktiv wie möglich zu machen, weiterhin Sympathie empfinde, auch wenn das innerfamiliär zu sich ständig wiederholenden Diskussionen führt. Doch darum soll es gar nicht gehen.

Eines der ständigen Ärgernisse ist das Unvermögen, vielleicht auch der Unwille von Fußgängern und Radfahrern – beiden Gruppen fühle ich mich gleichermaßen zugehörig -, die ihnen zugedachten Wege zu benutzen und die der jeweils anderen zu meiden. Während ich für mich beschlossen habe, mich darüber nicht mehr zu erregen, haben andere eine kreative Form gefunden, ihrem diesbezüglich Unmut Ausdruck zu verleihen:

Morgens am Rhein
Ebenda

Szenenwechsel. Als ich nachmittags nach einem Termin in Bonn-Kessenich mit der Straßenbahn, einem weiteren dem Auto gegenüber zu bevorzugenden Verkehrsmittel, nach Hause fuhr, stieg in der Südstadt ein junger Mann mit einem Fahrrad in die Bahn ein und am Hauptbahnhof wieder aus, insgesamt eine Fahrtstrecke von weniger als zwei Kilometern. Hat man ihm den Zweck eines Fahrrades nicht erklärt? Gleichwohl sympathischer als die Rennradraser in ihren lächerlichen bunten Strampelanzügen und mit Windschutzbrillen, die sich am Rheinufer ohne Rücksicht auf andere Radfahrer und Gegenverkehr aufführen, als wären sie alleine auf der Welt.

Freitag: Erstmals wurde es morgens während der Radfahrt zum Werk kalt an den Händen, vor dem Gesicht bildeten sich Atemwölkchen. So langsam wird das was mit dem Herbst.

Man möge eine Situation schildern, in der man sich fehl am Platz gefühlt habe, lautet die Schreibidee des Tages. Damit ließe sich eine mittellange Liste füllen, spontan fallen mir ein: immer beim Schulsport, in der Tanzschule, auf manchen Geburtstags- und Hochzeitsfeiern, machmal auch im Büro und öfter bei Besprechungen. Und heute Mittag in der Kantine, als sich Kollege R. ungefragt zu mir setzte und das Gespräch suchte. Ich habe überhaupt nichts gegen R., nur möchte ich manchmal einfach in Ruhe und gesprächsfrei essen, Mitesser dabei allenfalls aus sicherer Distanz beobachten. Bei seinem Eintreffen hatte ich meinen Teller zum Glück schon zu Dreiviertel geleert, daher wünschte ich nach dem Dessert ein schönes Wochenende und ließ ihn sitzen. Das mag unhöflich gewesen sein, doch bin ich sicher, er wird darüber hinweg kommen und sich gelegentlich wieder zu mir setzen. Vielleicht sollte ich mal an meiner abnehmenden Sozialerträglichkeit arbeiten.

Für Sonntag, den dritten Dezember nachmittags nehmen Sie sich bitte nichts vor, falls Sie sich dann im Raum Bonn aufhalten. Es ist noch nicht sicher, vielleicht werden wir dann zu zweit was vorlesen. Weitere Informationen folgen demnächst.

Samstag: Zum Frühstück besuchten wir ein Café am Marktplatz, aufgrund gewisser Aktivitäten am Vorabend war der Appetit noch etwas eingeschränkt. Der Geliebte sah sich immerhin schon wieder in der Lage, dazu ein Glas Sekt zu nehmen, mich grauste. Während wir im Außenbereich des Cafés kauten, baute sich hinter uns vor dem Rathaus eine Kundgebung der Gruppe Extinction Rebellion auf. Zunächst verlas man zweimal hintereinander Bekanntes über Temperaturanstieg, Politik und Kapitalismus, danach zog man an die Adenauerallee, um den Verkehr zu stören. Ich finde gut und richtig, was die machen, habe allerdings kaum Hoffnung, dass das irgendwas nützt, weil wir Menschen, mich eingeschlossen, unser Verhalten nicht ändern wollen und uns ungern über die Notwendigkeit belehren lassen.

Anschließend erforderte die vorgenannten Vorabendaktivitäten einen längeren Aufenthalt auf dem Sofa, wo sich nichts nennenswertes ereignete.

Sonntag: Der übliche Ablauf mit Ausschlafen, Frühstück (immer noch) auf dem Balkon, Sonntagszeitung ohne erwähnenswerte Bemerknisse, langem Spaziergang durch die Innere Nordstadt, Weststadt, Poppelsdorf, Südstadt mit Einkehr auf ein Glas, dabei die Blogs gelesen, man war wieder fleißig in den vergangenen Stunden. Die Spaziergangsbekleidung mit Pullover und Jacke erwies sich als etwas zu warm, das macht nichts, irgendwie muss man den Herbst ja anlocken. Zwischendurch fielen ein paar wenige Regentropfen, immerhin.

Wandholzkunst in der Inneren Nordstadt
Südstadt: Ich weiß es doch auch nicht.

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 5: Aus! Aus!

Montag: Wann stöhnt es sich wohliger, als wenn man montagabends nach dem end of business ins Sofa sinkt?

„Bomben könnten den Traum vom Frieden zerstören“, titelt der General-Anzeiger. Dabei denke ich mir zwei mit ernster Miene debattierende Loriot-Knollennasenherren. Nachdem der eine mit bedeutungsvoll geschlossenen Augen den oben genannten Satz gesagt hat, antwortet der andere: „Ach was.“

Dienstag: Vormittags verhindere ich Schlimmeres. Bitte stellen Sie sich hier einen siebensekündigen Film vor, den ich aus Persönlichkeits-, Daten- und Immisionsschutzgründen nicht zeigen kann. Er zeigt einige meiner Kollegen und mich beim Versuch, einem weiteren Kollegen, der zurzeit leider im Krankenhaus weilt, ein Geburtstagsständchen zu singen, auf dass der Genesende die Aufnahme per WhatsApp zugesandt bekomme. Ein jeder singt dabei in seiner eigenen Tonart. Nur durch energisches Eingreifen meinerseits („Aus! Aus!“) kann noch größeres Leid vermieden werden. Das klingt so:

In einer Präsentation lese ich „Multiplikatoren-Pyramide“. Das ist wohl das schönste Wort, welches mir in jüngerer Vergangenheit begegnet ist. Die Steinblöcke dieses Monuments sind Menschen, die anderen Menschen etwas beibringen sollen. Unter anderem sind sie „zuständig für das Vermitteln von Begeisterung“. Ich für meinen Teil bin hochgradig begeistert davon.

Offensichtlich begeistert waren auch ein siebzigjähriger Herr und eine vierunddreißigjährige Dame in Duisburg voneinander, was sie laut einem Zeitungsbericht dazu veranlasste, im Auto zu kopulieren. Während der Fahrt. Erst ein Zusammenstoß mit einem anderen Wagen löschte ihre Glut. Ob weitere Verkehrsregeln missachtet wurden, geht aus dem Bericht nicht hervor.

Mittwoch: Was mich zunehmend anwidert, sind Unternehmen und sonstige Institutionen, die mich ungefragt duzen.

Herr Levin mag das Wort „Narrativ“ nicht mehr hören und wünscht es auf den Friedhof der abgelegten Modewörter. Ich fürchte, ein Friedhof reicht nicht aus, um all die Wörter und Phrasen zu beerdigen, die ich nicht mehr hören und lesen mag.

Donnerstag: Es schneit. Sensation: „Im Bonner Hofgarten gelang sogar der Bau eines Schneemanns“, berichtet der General-Anzeiger auf der Titelseite.

Weniger bis gar nicht sensationell dagegen die Meldung, wonach die Sanierungskosten für die Beethovenhalle inzwischen bei 99,5 Millionen Euro liegen. Nachdem die Hundertmillionen-Grenze entgegen der Erwartung doch nicht bereits 2018 gerissen wurde, werden nun Wetten angenommen, ob sie noch im ersten Quartal dieses Jahres erreicht wird. Ich sage: ja. Wer hält dagegen?

„Same to you“, sagt der Kollege zur Verabschiedung aus der Skype-Konferenz. Ich verkneife mir ein „Du mich auch“.

Beim Mittagstisch in der Kantine sprechen wir über den Tod, was in keinem Zusammenhang mit der Qualität der dort angebotenen Speisen steht. Man sollte ruhig ab und zu darüber reden, auch wenn vielen das Thema nicht behagt. Oft ist es interessanter und unterhaltsamer als Fußball.

Freitag: Einmal noch, ein letztes Mal Günter Ogger:

„So schön die durchgestylten Verwaltungsgebäude vieler Unternehmen von außen aussehen – im Inneren herrscht oft das blanke Chaos. Chaotenbetriebe findet man allerdings weniger unter den jungen, am Rand des Wirtschaftsgeschehens dahindümpelnden Firmen als vielmehr im Zentrum der Großindustrie. Sie tragen auch durchaus vertraute Namen, wie Daimler-Benz, Siemens, Philips oder Hoechst.

Selbstverständlich würden sich die leitenden Herren mit Vehemenz gegen den Vorwurf wehren, sie wären Chaoten und ruderten ziemlich orientierungslos durch den Alltag. Denn nach ihrem Selbstverständnis dienen sie einem höchst effizienten, weltberühmten und äußerst klar strukturierten Unternehmen. Daß dem nicht so ist, wissen allenfalls die Klügeren unter den Bossen an der Spitze der Konzerne.“

(„Nieten in Nadelstreifen“, 1992)

Und die meisten Mitarbeiter, die wissen das auch, wäre zu ergänzen.

Samstag: Renovierungs- und Umgestaltungsmaßnahmen innerhalb der eigenen Räumlichkeiten sind ein Aufgabenfeld, auf dem ich kein besonders großes Talent entfalte. „Du musst die Arbeit sehen“, wird mir beschieden. Das sehe ich anders: Die Arbeit wird sich schon melden, wenn sie was von mir will.

Warum bin ausgerechnet ich mit einem ansonsten äußerst liebenswerten Menschen verheiratet, der auch bei Minusgraden alle fünf Minuten die Balkontür öffnet? „Hier drinnen ist schlechte Luft“, so die Begründung. Als ob kalte Luft keine schlechte Luft wäre!

Sonntag: Zu früher Morgenstunde höre ich draußen die erste Amsel singen. Möglicherweise wurde es versäumt, ihr die Uhr zu stellen. Oder ich habe das nur geträumt.

In der Sonntagszeitung lese ich einen interessanten Artikel über das Navigationssystem „what3words“. Entgegen sonstiger Gewohnheit lade ich die App auf mein Telefon. Der Schreibtisch, an dem diese Zeilen niedergeschrieben werden, steht demnach im Quadrat „farblos.wertvolle.fischte“. Aufgabe für die nächste Woche: Eine Geschichte ausdenken, in der diese drei Wörter vorkommen. Das Quadrat „end.of.business“ gibt es übrigens nicht.

Dieselbe Zeitung lässt wissen, trotz Zeiten ständiger Erreichbarkeit gelte es zunehmend als unschicklich, jemanden ohne vorherige Absprache anzurufen. Dem stimme ich vorbehaltlos zu. Schlimmer noch als unerwartete Anrufe empfinde ich indes, in der Fußgängerzone von duzenden, scheinbar gut drauf seienden, jungen Tier-, Kinder-, Natur- oder wen oder was auch immer -Schützern angequatscht zu werden. Das weiß auch Herr Buddenbohm, und er macht sich sehr lesenswerte Gedanken über die Schulung dieser Leute.