Vorbemerkung: Heute fand zum letzten Mal die Lesebühne im Limes statt. Ich hatte die Ehre und das Vergnügen, daran teilzunehmen. Unter anderem las ich folgenden, extra für diesen Abend verfassten Text.
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Das Sharlie war eine Eckkneipe in der nördlichen Bonner Innenstadt. Keine ganz gewöhnliche Kneipe, auch wenn das an der Außenwand neben der Eingangstür angebrachte Schild, das das Lokal als Stützpunkt eines Männergesangsvereins auswies, nichts Außergewöhnliches erkennen ließ. Jedenfalls: Frauen waren als Gäste unerwünscht, um hinein zu gelangen, musste Mann einen Klingelknopf neben der Tür drücken, woraufhin einem nach Sichtprüfung durch eine Klappe in der Tür, sofern man zutrittswürdig erschien, aufgetan ward. (Vielleicht erfolgte die Einlasskontrolle auch über eine Kamera, ich erinnere mich nicht mehr genau, es ist rund zwanzig Jahre her.) Ich schien die erforderlichen Zugangskriterien zu erfüllen, zumindest war ich schon damals keine Frau oder „weiblich gelesene Person“, wie es heute korrekt heißt; meinem Einlassbegehren wurde stets stattgegeben.
Nach Überwindung der Pforte betrat man einen größeren Raum mit schummrigen Licht, rechter Hand die Theke, dahinter der Wirt, wegen seines robust-spröden Charmes von den Gästen „die Herrin“ genannt. Mit ihr legte man sich besser nicht an. Ihr beziehungsweise sein richtiger Name ist mir entfallen, vielleicht wusste ich ihn auch nie.
Links von der Theke führte ein Gang zu den Toiletten sowie einem weiteren, nur knapp beleuchteten und eher spärlich möblierten Raum. Soweit ich mich erinnere, war er gefliest, aus gutem Grund: Während vor der Theke gewöhnlicher Kneipenbetrieb herrschte mit Getränkeverzehr, Musik und mehr oder weniger gepflegtem Gespräch, diente das Hinterzimmer nicht etwa der wöchentlichen Chorprobe des Gesangsvereins, sondern anderen, sehr speziellen zwischenmännlichen Vergnügungen, nach denen eine unkomplizierte Reinigungsmöglichkeit des Raumes nicht von Nachteil war. Am Rosenmontag – der Bonner Zoch ging direkt am Sharlie entlang – konnte es dazu kommen, dass hier der böse Wolf den Matrosen vernaschte und der Schotte ihnen mit gehobenem Rock dabei zuschaute, während im Vorderzimmer „Es ist noch Suppe da“ gesungen wurde.
Irgendwann änderte sich der Name der Gaststätte von Sharlie in Kwai Lounge. Auch der Besitzer wechselte, statt der Herrin stand nun ein mäßig sympathischer Österreicher hinter der Theke, daneben sein jüngerer asiatisch gelesener Freund. Letzterer konnte ziemlich zickig werden, weshalb ihn manche wenig respektvoll „Asia-Muschi“ oder „Reisschüssel“ nannten. Am Grundkonzept des Ladens hatte sich nichts geändert: vorne Bier, hinten Gier.
Sehr lange gab es die Kwai Lounge nicht, schon nach wenigen Jahren schloss sie. Vielleicht fuhr Mann inzwischen für das besondere Unterleibsvergnügen lieber nach Köln, wo es zahlreiche Etablissements ähnlicher Zweckbestimmung gab, oft mit besonderen Motto-Veranstaltungen wie Sportswear, Underwear, Leder, Bären, U30, Ü40, Anzug, Stutenmarkt oder naked, ich möchte da nicht zu sehr ins Detail gehen. Woher ich das weiß? Das ist mir entfallen, es ist lange her.
Nach einiger Zeit wurde die Kneipe unter dem Namen Limes wieder geöffnet. Auch Damen sind nun gerne gesehen, man muss nicht mehr klingeln, um einkehren zu dürfen, im Sommerhalbjahr kann man draußen sitzen. Statt Fang-die-Wurst-Spielen im Separée gibt es einmal im Monat eine Lesebühne. Das Schild des Gesangsvereins ist noch immer angebracht.
Doch die Tage des Limes sind ebenfalls gezählt, zum Jahresende wird es geschlossen. Ich war nur wenige Male dort. Wenn ich heute durch die Theaterstraße gehe und durch das Fenster die Gäste an den Tischen im hinteren Raum ihr Bier trinken sehe, denke ich: Wenn ihr wüsstet.


