Gut gemeint – eine Fabel

Die alte Eule hatte ihr Leben weitgehend gelebt. Nachdem der alte Euler erst erkrankt, dann gestorben war, hatte sie die gemeinsame Wohnhöhle verlassen und sich im selben Wald eine neue, kleinere gesucht. Darin hatte sie sich behaglich eingerichtet und fühlte sie sich sehr wohl. Sie blühte noch einmal auf, den alten Euler vermisste sie nicht allzu sehr. Sie war noch im Besitz ihrer Kräfte, fing sich Mäuse, besuchte die anderen alten Eulen im Wald oder empfing sie bei sich in ihrer gemütlichen Höhle. Ihre Kinder waren schon lange ausgeflogen in andere, entfernte Wälder, wo sie ihr eigenes Leben lebten. Manchmal besuchten sie die alte Eule, dann freute sie sich. Wenn sie danach wieder weg waren, freute sie sich auch.

Eines Tage lernte die alte Eule bei einem Ausflug im Wald die junge Elster kennen, sie freundeten sich an. Von da an kam die Elster häufig zu Besuch, sie brachte der Eule Mäuse und andere Leckereien mit, auf dass die Eule nicht mehr selber jagen musste. Manchmal, wenn es der Eule nicht so gut ging, blieb die Elster über Nacht bei ihr; wenn die Eule zu Doktor Uhu musste, kam die Elster mit und gab dem Doktor Ratschläge, was der Eule fehlte. Bald sah man die beiden nur noch gemeinsam. Die anderen Tiere im Wald fragten sich, warum die alte Eule nur noch in elsterlicher Begleitung anzutreffen war. Kam sie nicht mehr allein zurecht?

Manchmal, wenn die Elster bei ihr war und auf sie einschnatterte, wünschte sich die Eule Ruhe, mehr Zeit allein mit sich. Auch merkte sie, wie für sie das Mäusefangen immer beschwerlicher wurde, da sie zunehmend aus der Übung kam. Manchmal stritten sie sich, was die Eule sehr traurig machte; früher hatte sie sich nie gestritten, selbst die Marotten des alten Eulers hatte sie stets mit Gleichmut ertragen. Dann flog die Elster weg, kehrte aber bald zurück.

„Sollen wir mit der Elster mal ein ernstes Wort reden?“, fragten die Eulenkinder, als sie zu Besuch waren. Nein, das wollte die Eule nicht, tat doch die Elster so viel für sie, viel mehr, als die Kinder von ihren fernen Wäldern aus zu tun vermochten, und wofür sie der Elster sehr dankbar waren. „Komm in unseren Wald, dort ist es auch schön. Dann bist du in unserer Nähe“, sagte der eine Eulensohn. Das wollte die Eule auch nicht, zu sehr hätte sie ihre Höhle, ihren Wald und die anderen alten Eulen vermisst. Doch die wurden immer weniger, eine nach der anderen starb oder wurde vom Fuchs geholt. Auch für sie würde vielleicht bald die letzte Nacht anbrechen, aus der kein neuer Tag erwacht. Bis dahin hätte sie gerne, wenigstens ab und zu, in Ruhe weitergelebt. Und die eine oder andere Maus selbst gefangen, damit sie es nicht ganz verlernt.

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Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Eulen und Elstern können nicht ganz ausgeschlossen werden.