Gut verpackt

Oft ist es die Verpackung, welche einer Ware den besonderen Wert verleiht. Ein hochwertiger Kugelschreiber etwa wäre nichts weiter als ein Kugelschreiber, käme er nicht in einer monströsen, mit Samt ausgeschlagenen Holzschatulle daher. Ein Fertiggericht, Roulade, Kartoffelpüree und Rotkohl sorgsam in drei Kammern getrennt, mutet an wie von einem Dreisternekoch gezaubert, betrachtet man die Abbildung auf der Schachtel, vorausgesetzt, man übersieht das Wörtchen „Serviervorschlag“ ganz unten, ganz klein. Bei manchen Produkten ist gar die Verpackung das eigentlich wertvolle, denken Sie nur an stilles Mineralwasser.

Was für Waren gilt, lässt sich mühelos auf Menschen übertragen: Vielen Zeitgenossen möchte man nur ungern unbekleidet begegnen, auch verdankt unsere Bundeskanzlerin einen Großteil ihrer Autorität ihren Hosenanzügen, und welchem Konzernlenker oder Bankvorstand vertraute man blind ohne dunklen Anzug und gedeckte Krawatte?

Und schließlich: die schlechte Nachricht verliert deutlich an Schrecken, so sie sorgsam in weiche Wortwatte gehüllt verkündet wird. Für die Bevölkerung besteht keine unmittelbare Gefahr, dennoch wird dringend geraten, Fenster und Türen geschlossen zu halten und kein Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten zu essen, rein vorsorglich, versteht sich.

Doch hat Verpackung ihre Tücken.

Damals, als Musik noch von einer CD kam und nicht von iTunes oder aus den Weiten des Netzes, die älteren unter Ihnen werden sich vielleicht dunkel erinnern, stand dem Musikgenuss nach dem Kauf zunächst ein längerer Kampf mit der umschweißten Plastikfolie bevor. Mit bloßen Händen, hilfsweise Zähnen, ohne ein scharfes Werkzeug war da gar nichts zu machen. Und selbst wenn man ein spitzes Messer zur Hand hatte, war der Hörgenuss noch weit entfernt, weil jegliche Ansatzstelle in der Folie fehlte und man sich mit dem abrutschenden Messer eher den Handrücken aufriss als die Umhüllung. Besonders findige Verpackungshersteller woben einen kleinen roten Faden in die Folie ein, mit dessen Hilfe man sie zerteilen sollte. Leider befand sich der Anfang dieses Reißfadens ebenfalls unerreichbar unter der Folie, gute gemeint ist bekanntlich das Gegenteil von gut.

Beispiel Gummibärchen. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, um die kleinen süßen Racker aus ihrer Tüte zu befreien: entweder man zieht die Tüte oben an der Verschweißung auseinander, oder man folgt der Anweisung „Hier Aufreißen“ und zerrt an der dafür vorgesehenen Kerbe oben in der Ecke. Versucht man es mit Alternative 1, passiert dank der Fortschritte moderner Schweißtechnik gar nichts, auch Alternative 2 läuft zunächst ins Leere. Reißt man noch kräftiger an der Kerbe, gibt die Materie endlich nach, die Tüte teilt sich mit einem Ruck der Länge nach, die bunten Freunde kann man anschließend vom Teppich aufsammeln. Diesbezügliche Beschwerden bei Herrn Gottschalk blieben leider bisher unbeantwortet.

Ein besonders heikles Kapitel ist die Verpackung von Kondomen: Soeben hat man sich angenähert, sei es in heimischer Sitzgruppe oder im öffentlichen Personennahverkehr Kölner Darkrooms, alles steht bereit, fehlt nur noch das schützende Mäntellein. Leider befindet sich dieses, sorgsam aufgerollt, in einer nahezu unzerstörbaren quadratischen Kunststoffumhüllung. So sehr man auch zieht, zerrt und an den Ecken beißt, das blöde Ding gibt nicht nach. Und wer geht schon mit Taschenmesser zum Liebesspiel, ist ja auch nicht gerade der Erotik förderlich, lässt man einmal besondere Spielarten außer acht. Hat man dann doch endlich, nach vielen Versuchen und Diskussionen („Lass mich mal…“) die eine richtige von acht möglichen Ecken erwischt und gelangt endlich an das Ersehnte, so hat sich der Rest unten herum zumeist längst erledigt. Das Prinzip Safersex funktioniert.

Manchmal glaube ich, die machen das extra, haben einen Riesenspaß daran, wie ihre tollen, unzerstörbaren Verpackungen uns das Leben schwer machen, vielleicht sogar mit einem rauh gehöhnten „Vorfreude ist die schönste Freude“ auf den Lippen, während ihr neu kreiertes Packprodukt jeder Materialprüfung mühelos standhält. Ich wünsche wirklich niemandem etwas schlechtes, aber ihr, ihr Verpackungsdesigner, sollt ewig in der Hölle schmoren und dort gezwungen werden, von morgens bis abends nichts anderes zu tun als eure eigenen Scheißverpackungen zu öffnen!

Über Berge und blaue Rauten

Liebe Schweizer,

es ist an der Zeit, ein Loblied auf euch und euer Land anzustimmen. Wer denkt nicht als erstes an eure Berge, wenn er Schweiz hört, das Matterhorn, den Gotthard, dessen Schoß Rhein und Rhone gebiert; eure Almen werden nicht erst seit Heidi gerühmt und besungen, im Sommer grün, im Winter weiß und als Skigebiete beliebt. Berühmt sind eure Löcher, seien es gelbe im Emmentaler Käse oder schwarze im Genfer CERN. Neben dem Käse, sei es am Stück oder als Fondue, verwöhnt ihr unsere Geschmackssinne mit Rösti, Toblerone und Ricola, und auch mit Müsli – wer hat‘s erfunden? Die Schweizer!

Wie arm wäre die menschliche Kultur ohne Emil, Kurt Felix oder DJ Bobo, jeder richtige Junge hat ein original Schweizer Taschenmesser in der Hosentasche. Und dass ihr so sprecht, als littet ihr unter einer fortgeschrittenen Rachenentzündung, macht euch nur noch liebenswerter. Euer Eisenbahnwesen ist vorbildlich, der öffentliche Personen-Nahverkehr ermöglicht jedem noch so kleinen Dorf die Teilnahme an der Eidgenossenschaft.

Apropos Nahverkehr: Auch das Liebesleben ist euch ein wichtiges Anliegen, welches nicht an eurer Landesgrenze endet, sondern auch die Menschen nördlich des Bodensees einbezieht. Menschen wie mich. Dies beweisen die Angebote eurer Swiss-Apotheke, welche nicht müde wird, mir nahezu täglich per elektronischer Post die bekannte blaue Raute zu offerieren; hierfür bedanke ich mich sehr.

Aber mal unter uns: Ja, ich bin keine zwanzig mehr, daher kann ich wirklich nicht mehr so oft wie früher, und will es auch nicht unbedingt, man hat ja noch anderes zu tun, mit fortschreitendem Alter verschieben sich die Schwerpunkte etwas. Nur: müsst ihr mir das unbedingt täglich unter die Nase reiben? Daher eine kleine Bitte: Ich weiß eure Fürsorge wirklich zu schätzen, doch wäre ich euch dankbar, von weiteren Angeboten vorläufig abzusehen. Bei Bedarf werde ich eine Packung bestellen, ganz bestimmt, versprochen, eure Adresse habe ich ja nun.

Eines würde mich zum Schluss noch interessieren: Das Angebot der Swiss-Apotheke umfasst einen Kundendienst 24/7. Bedeutet das, ich kann wirklich jederzeit anrufen, wenn das Ding mal wieder nicht stehen bleiben will wie ein Murmeltier in Wachtstellung, sei es auf heimischer Matratze oder im Darkroom? Was erwartet mich im Falle eines Anrufs, säuselt mir eine erotische Stimme kleine animierende Sauereien ins Ohr, bis das Blut in den Lenden pocht? Falls ja, sollten wir in Kontakt bleiben. Ich melde mich!

Menschen in der Bahn – Nachtrag

Unlängst besang ich hier diverse Verhaltensweisen und Erscheinungsformen von Zeit- und Artgenossen im Öffentlichen Personen-Nahverkehr. Als Nachtrag dazu die Schilderung einer kleinen Begebenheit, die sich vor schon längerer Zeit in der Bielefelder Straßenbahn zutrug.

Mit dem Zug nach ereignisloser Fahrt in Bielefeld angekommen, stieg ich am frühen Abend an der Haltestelle Hauptbahnhof in die Linie 3, um meine Eltern im wenig dekorativen Stadtteil Stieghorst zu besuchen, aber das nur am Rande. In der Sitzgruppe neben mir nahmen zwei Personen Platz, ein Mann und eine Frau. Kaum saßen sie, machte die Frau den folgenschweren Fehler, ihr Gegenüber zu fragen: „Und, wie läuft das Projekt?“, etwa so, wie man fragt „Wie geht’s?“, weil man das eben so fragt und nicht etwa in der Hoffnung auf eine ehrliche Antwort – wer will schon Details zur gerade überstandenen Darmoperation oder von den Problemen mit dem ältesten Sohn hören, wenn er eigentlich ein „Danke gut, und selbst“ erwartet hat.

Offenbar hatte sie die Mitteilungsfreude ihres Gesprächspartners unterschätzt, wie aus einem zu früh geöffneten Schleusentor bei einer Springflut ergoss sich ein Wortschwall in die Bahn, unschöner Sprachmüll wie „Performance“, „…haben wir im Scope“, „Business Case“, „gut aufgestellt“, „Herausforderung“, „Showstopper“ und weiterer Verbal-Unrat wurde während dieser Floskelflut an mein Ohr gespült.

Kurz bevor die Bahn wenige Minuten später am Jahnplatz wieder hielt, erhob sich die Frau wortlos von ihrem Platz und ging zur Tür, derweil die Floskeln weiter flogen. „Ach, musst du schon raus?“, fragte der Schwätzer ihr nach, die tonlose Antwort „Ja, ich muss noch…“ war zu vernehmen, als die Tür der Bahn sich schon wieder schloss.

Was der Mann nicht wusste, und ich weiß es auch nicht, bin mir aber ziemlich sicher, dass es so war: Seine Bekannte musste nicht raus, also jedenfalls nicht, weil sie ihr Fahrtziel erreicht hatte. Aber lieber zehn Minuten in Ruhe auf die nächste Bahn warten, als bis Sieker-Mitte diesem Geschwätz ausgesetzt zu sein. Ich an ihrer Stelle hätte es nicht anders gemacht.

Menschen in der Bahn

„Ein Mensch schaut in der Straßenbahn / der Reihe nach die Leute an. / Jäh ist er zum Verzicht bereit / auf jede Form Unsterblichkeit.“ – so schrieb einst der großartige Eugen Roth. Dieses Gedichtlein hat bis heute nichts an Aktualität verloren, als täglicher Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs erlebe ich sie jeden Tag: die Menschen in der Bahn. Ihnen ist dieser Aufsatz gewidmet.

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Der Arbeiter*: Schon morgens kramt er aus seiner Laptoptasche seinen Rechner, diverse ausgedruckte Präsentationen und Unterlagen heraus, dazu stets die Datenpistole Marke Blackberry im Auge. Er/sie ist ein Genie: zwischen zwei bis fünf Haltestellen kann er sein Zeugs heraus kramen, dann gleichzeitig E-Mails bearbeiten, Unterlagen mit dem Textmarker färben, telefonieren und Kaffee aus einem Pappbecher mit einer winzigen Trinköffnung im Deckel trinken, und schließlich, eine Sekunde bevor er raus muss, alles wieder in seiner Tasche verstaut haben. Ich weiß nicht, ob ich ihn dafür bewundern oder bedauern soll.

Vollbringt der Arbeiter schon in der U- oder Straßenbahn wahre Wunder auf dem Feld des Multitaskings, so fährt er im Intercity zur Höchstform auf. Mühelos gelingt es ihm, mit Rollkoffer, Unterlagen, Laptop, Mantel, Jackett, Ersatzanzug, Hutschachteln und Schuhen (was veranlasst eigentlich Menschen, im Zug ihre Schuhe auszuziehen?) eine Vierersitzgruppe mit Tisch komplett einzunehmen. Zwischen Würzburg und Frankfurt/Main-Flughafen fertigt er eine 40-seitige Präsentation, isst ein Baguette mit Schinken und Käse, liest ein etwa hundertseitiges Worddokument und macht seine Anmerkungen darin, führt trotz fluchend durchfahrener Funklöcher zwölf Telefonate, trinkt vier Kaffee, fertigt seine seine Steuererklärung und rettet die Welt – vorausgesetzt, eine Steckdose befindet sich an einem seiner vier Plätze.

Wenn nicht, kann man beobachten, wie ein Mensch mit schwindender Akkufüllung immer mehr in sich zusammen sinkt wie ein undichter Luftballon, bei fünfzig Prozent erste Schweißperlen, die sich bei spätestens 30 Prozent zu Rinnsalen erweitern; bei unter zehn Prozent tritt Schaum aus dem Mund, und nachdem er seinen Rechner endlich zugeklappt hat, weil nichts mehr geht, sitzt er zitternd und zusammengekauert auf seinem Platz und schaut alle dreißig Sekunden abwechselnd auf seine Armbanduhr und den Blackberry. Bis zum Zielbahnhof ist die Reise für ihn eine Qual, etwa so wie für mich das Innere einer Sporthalle, er nimmt nicht wahr, was draußen am Fenster vorüber fliegt, die angebotene DB-Kundenzeitschrift verbleibt ungelesen in der Ablage an der Rückenlehne des Vordersitzes.

Auf der Sympathie-Scala von eins (sehr unsympathisch) bis zehn (sehr sympathisch) bekommt der Arbeiter wegen der Unruhe, die er verbreitet, drei Punkte. Ohne Steckdose und mit leeren Akkus sechs.

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Der Smartphoneabhängige*: Sobald er seinen Platz eingenommen hat, wobei es keine Rolle spielt, ob Sitz- oder Stehplatz, starrt er auf sein iPhone oder ein artverwandtes Gerät und tippt / streicht darauf herum. Im günstigsten Fall tut er dies geräuschlos, im nicht ganz so günstigen Fall umgibt ihn dabei ein rhythmisch schräbbelndes Geräusch aus seinen Ohrstöpseln, und im schlimmsten Fall telefoniert er lautstark für alle im Wagen hörbar: „Alter, wo bist du? – Was? Verstehe dich nicht, sind im Tunnel. – Was? Bin noch in der Bahn. – Was?“ Und so weiter. Von der ersten bis zur letzten Haltestelle, wo er aussteigt, und vermutlich weit darüber hinaus. Sympathiewert: je nach Geräuschentwicklung zwei bis fünf Punkte.

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Der Schwätzer*: Er unterhält sich lautstark, so dass es jeder mitbekommt, am liebsten über Themen aus seinem Arbeitsumfeld, das Projekt, wie lange er gestern wieder im Büro war, die faulen Kollegen, die schlechte Organisation in seiner Abteilung, aber ihn fragt ja keiner, außerdem er habe es ja gleich gesagt. Im günstigsten Fall labert er einen Kollegen voll, im schlimmsten Fall bin das ich. Sympathiewert: einen Punkt; wenn ich das Opfer seiner Ansprache bin, minus drei.

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Der Apathische*: Er sucht sich seinen Platz und macht – gar nichts. Starrt einfach vor sich hin, auf einen imaginären Punkt im hinteren Wagenteil, vielleicht die Werbung der örtlichen Telefonseelsorge, deren Nummer er vom täglichen Starren längst auswendig kennt, oder in das Schwarz des durchrauschten U-Bahn-Tunnels. Er ist mir einer der liebsten Mitreisenden, unauffällig, geräuscharm. Je nach dekorativer Erscheinung acht bis zehn Punkte.

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Der Ungeduldige*: Für ihn ist die Bahnfahrt eine Qual. Er bleibt direkt in der Tür stehen, auf dass sich jeder, der ein- oder aussteigen will, an ihm vorbei quetschen muss. Spätestens drei Haltestellen vor seinem Ziel holt er eine Zigarette aus der Tasche, klemmt sie sich hinter das Ohr und spielt nervös – ratsch ratsch, funk funk – mit seinem Feuerzeug herum. Fährt die Bahn nicht weiter, weil mal wieder jemand in der Tür steht und sie sich deshalb nicht schließen lässt, sagt er so Sätze wie „Nun fahr endlich, Scheißbahn“, und schaut zustimmungsheischend in die Runde, jedoch ohne Erfolg, weil die Apathischen um ihn herum ihn ignorieren. Die anderen hören ihn nicht. Nachdem er gemerkt hat, dass es seine Tasche ist, die in die Lichtschranke der Tür ragt, kann die Bahn auch weiter fahren. Sympathiewert: fünf bis sechs Punkte.

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Der Kramer*: Er setzt sich nicht auf den freien Sitzplatz neben mir, sondern platziert dort zunächst seinen Rucksack, dann beugt er sich darüber und beginnt darin zu kramen, bis er seine Wasserflasche gefunden hat; dann setzt er sich endlich, den Rucksack zu seinen Füßen, und kramt unermüdlich weiter darin herum, holt ein Buch, sein Telefon und ein belegtes Brötchen hervor. Er hört nicht eher mit kramen auf, bis seine Zielhaltestelle erreicht ist, oder meine. Der Kramer macht mich wahnsinnig. Maximal zwei Sympathiepunkte.

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Der Esser*: Er steigt schon mit einem Kaffeebecher ein, entweder einer dieser scheußlichen Pappbecher mit Plastikdeckel, siehe oben, oder so ein hipper alufarbener Thermobehälter mit Henkel; kaum sitzt er, holt er eine Papiertüte der nächsten Bäckerei aus seiner Tasche hervor und beißt bald darauf grunzend und schmatzend in das weiträumig krümelnde Buttercroissant oder, schlimmer, in das mit Tomate, Mozzarella, Ei, Thunfisch, Frikadelle, Mayonnaise und einem Salatblatt völlig überbelegte Baguettebrötchen, aus dem sich spätestens nach dem zweiten Bissen die Zutaten der Schwerkraft folgend verabschieden, im günstigsten Fall in den Schoß des Essers, im ungünstigsten auf meine Schuhe.

Auch hier ein kurzer Ausflug zum DB-Fernverkehr: Statt der Tüte des örtlichen Bäckereiwaren-Fachgeschäfts holt Mutti gerne eine große Plastikdose hervor und verteilt daraus belegte Brote mit grober Leberwurst, selbstgebratene Frikadellen und hartgekochte Eier an ihre Lieben, woraufhin der halbe Wagen von einem Geruch erfüllt ist, der an einen Kühlschrank nach mehrtägigem Stromausfall im Hochsommer und Verwesung im fortgeschrittenen Stadium erinnert.

Je nach Geruchsbelästigung erhält der Esser null bis einen Sympathiepunkt.

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Der Fahrradmitnehmer*: „Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt“, so der Volksmund. Wer sein Fahrrad noch mehr liebt, nimmt es im Berufsverkehr mit in die überfüllte Bahn, und wenn es nur für die Distanz von drei Haltestellen ist. Meine bisherigen Versuche, den Fahrradliebhabern den eigentlichen Zweck ihres drahtigen Freundes zu erläutern, wurden stets mit einem lauter stellen des Schräbbelgeräusches aus ihren Smartphone-Kopfhörern quittiert. Aber ich bleibe dran. Sympathiewert: null Punkte

Der Klappfahrradbesitzer*: Eine auf den ersten Blick wesentlich angenehmere Unterart des Fahrradmitnehmers. Kaum hat er die Bahn mitsamt Rad bestiegen, beginnt die öffentliche Vorführung seines Wunderwerks: Dank einer raffinierten Technik aus zahlreichen Scharnieren, Knickstellen und Gelenken lässt sich das Rad soweit zusammenfalten, dass es anschließend Platz in einer Manteltasche findet. Auch mit Übung dauert diese Prozedur eine gewisse Zeit, mindestens so lange wie die Bahnfahrt an sich. Daher mutiert der Klappfahrradbesitzer schnell zum -> Kramer, was ihm leider nicht mehr als zwei Sympathiepunkte einbringt.

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Der Sitzblockierer*: Er benötigt stets einen Zweiersitz, einen Platz für sich, einen für seine Tasche oder den Rucksack. Dabei ist es egal, wie voll die Bahn ist, ungerührt nimmt er nicht zur Kenntnis, dass sich die Mitfahrer neben seinem Platz stehend drängeln wie die Kaiserpinguine während eines Schneesturms, stattdessen widmet er sich seinem iPhone oder schaut einfach aus dem Fenster. Wer wollte es ihm übel nehmen, die Tasche auf den Schoß zu nehmen, wäre eine Zumutung, sie zu Füßen auf den Boden zu stellen scheidet allein schon aus hygienischen Gründen aus, und auch die Gepäckablage über dem Sitz ist angesichts der immer schlechter werdenden Welt keine ernstzunehmende Alternative. Wagt man es dennoch, den Sitzblockierer zu fragen, ob der Platz neben ihm noch frei sei, so kann man sich eines Blickes sicher sein, als hätte man soeben seinen Kopulationswunsch kundgetan oder gefragt, ob das auf seinem Kopf eine Frisur oder eine schlecht sitzende Mütze sein. Höchstens zwei Sympathiepunkte.

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Der Attraktive: Gerade im Sommer sehr anstrengend. Plötzlich sitzt er mir gegenüber, der Adonis, jung, schön, leicht bekleidet – und würdigt mich keines Blickes. Stattdessen zupft er im Spiegelbild des schwarzen U-Bahn-Fensters an seiner Frisur herum und krault sich mit der anderen Hand an seinem haarigen Oberschenkel. Mir bricht der Schweiß aus, ich will ihn anstarren, da das jedoch ungehörig ist, schaue ich ebenfalls in den schwarzen Fensterspiegel, wo ich ihn unbemerkt beobachten kann. Die Zielhaltestelle kann ich kaum erwarten, meine oder seine, egal, Hauptsache ich muss ihm nicht länger gegenüber sitzen. Mit lüsternen Bildern im Kopf steige ich aus, aber das ist nicht schlimm, nach spätestens zwei Tagen verflüchtigen die sich meistens. Wenn es gut läuft. Sympathiewert: zehn Punkte. Mindestens.

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Der Buchleser*: Er ist ein ähnlich angenehmer Reisegenosse wie der Apathische, unauffällig und geräuschlos nimmt er den dritten Band von Thomas Manns ,Josef und seine Brüder‘ hervor und liest darin, schon seit Monaten und vermutlich noch weitere Wochen. Durch Schwätzer, Arbeiter und Esser lässt er sich nicht von seiner Lektüre ablenken, Seite für Seite liest er sich durch die schwere Materie. Kommt eine Durchsage, etwa „Wegen einer Signalstörung verzögert sich unsere Weiterfahrt um unbestimmte Zeit“, woraufhin sich ein Tumult im Wagen erhebt, hebt er nur kurz andeutungsweise eine Augenbraue, räkelt sich in eine bequemere Sitzposition und liest weiter, der Lesestoff reicht noch für Tage. Ich beneide ihn. Daher acht bis zehn Sympathiepunkte.

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Der Mitleser*: Auch ich bevorzuge es, U-Bahnfahrten, in Ermangelung optischer Reize vorbeiziehender Landschaften, lesend zu verbringen, daher habe ich stets ein Buch oder eine Zeitung dabei. Es gibt Menschen, die auch gerne lesen während reizloser Bahnfahrten, nur haben sie nichts zum Lesen dabei, stattdessen lugen sie mehr oder weniger unverhohlen in die Lektüre ihres Nebenmannes. Ich weiß nicht warum, aber diese Mitleser stören mich ungemein, so als ob sie ungefragt von meinem Butterbrot abbeißen würden, erst recht bei Texten, die, na sagen wir mal, nicht ganz jugendfrei sind. Sonst auch. Ein böser Blick meinerseits vertreibt den Buchstabenschmarotzer für wenige Sekunden, doch schon bald spüre ich wieder seinen Blick, Zeile für Zeile.

Mittlerweile gewöhne ich mich jedoch an diese Zeitgenossen, und da ich von Natur aus höflich bin, blättere ich erst weiter, wenn ich sicher bin, dass auch mein Nebenmann die Seite zu Ende gelesen hat. Daher steigt der Sympathiewert langsam von ursprünglich zwei auf inzwischen vier Punkte, Tendenz steigend.

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Die Aktenorderträgerin: Hier wähle ich ausnahmsweise die weibliche Form, weil es nach meiner Beobachtung fast ausschließlich junge Frauen sind, die statt einer Tasche einen Aktenordner mit sich tragen. Seltener auch junge Männer türkischer Abstammung, was keineswegs wertend gemeint ist, es entspricht einfach meiner Beobachtung. Entweder der klassische dunkelgraumelierte Leitz-Ordner, zunehmend bei den Damen auch buntere Exemplare. Bislang ungeklärt ist die Frage, was Inhalt dieses Ordners ist, zumeist sind es nur wenige Dokumente. Noch niemals wurde das Geheimnis während einer Bahnfahrt durch Aufklappen des Ordners gelüftet. Auch entzieht es sich meiner Kenntnis, welcher Tätigkeit diese Damen und wenigen Herren nachgehen. Für Hinweise wäre ich dankbar. Bis zu zehn Sympathiepunkte, es sei denn, mit dem Aktenordner wird ein Sitz blockiert.

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Der Verpisser: Hier ist bewusst die männliche Form zu wählen. Streng genommen handelt es sich nicht um einen Menschen in, sondern an der Bahn, genauer: an der Haltestelle, noch genauer: an einer Haltestelle ohne Hochbahnsteig, der einen ebenerdigen Einstieg ermöglicht. Zunächst steht er untätig herum und wartet. In hektische Bewegung gerät er, wenn eine Mutter mit Kinderwagen auf ihn zurollt. Vielleicht kennen Sie den Effekt, der eintritt, wenn auf eine mit Blütenstaub bedeckte Wasserfläche ein Tropfen Öl fällt, sofort stieben die Pollen kreisförmig auseinander. Ähnliches ist zu beobachten, wenn mehrere Verpisser auf die Bahn warten und besagte Mutter angetropft kommt.

Da ich seit Jahren immer um dieselbe Zeit mit derselben Bahn fahre, weiß ich natürlich längst, wohin ich mich stellen muss, um keinen schweren Zwillingskinderwagen in die Bahn hieven zu müssen. Nicht, dass ich mich drücken würde, aber ich bin nicht mehr der jüngste, und mein Kreuz…

Das schlimmste, was dem Verpisser passieren kann, ist, dass er einsteigen will, die Tür der Bahn öffnet sich, oben steht die Mutter und schaut ihn erwartungsvoll an. Zurück kann er nicht, also verkneift er sich den leisen Fluch und hilft beim Herauswuchten des Kinderwagens. Dummerweise stellt er sich dabei sehr ungeschickt an, und ehe er einsteigen kann, ist die Tür wieder zu und die Bahn fährt ab, ohne ihn, der eben noch unterdrückte Fluch entfährt ihm doch noch, nützt zwar nichts, hilft aber. – Sympathiewert: sechs bis acht Punkte, wer will sich schon selbst in Misskredit bringen.

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Ich gebe zu: Ohne die vorgenannten Mitmenschen käme mir jede Bahnfahrt öde und langweilig vor, daher gehört mein Mitgefühl allen, die ihre tägliche Fahrt zur Arbeit in einem Auto, auf einem Fahrrad oder gar zu Fuß verbringen müssen. Damit schließe ich das Loblied auf den öffentlichen Personen-Nahverkehr.

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* Hinweis an die politisch korrekten: Aus Gründen der Verständlichkeit verzichte ich auf die Nennung der jeweils weiblichen Erscheinungsform, weise jedoch darauf hin, dass die meisten der geschilderten Beobachtungen und Klassifizierungen nicht an ein bestimmtes Geschlecht gebunden sind. Ich bitte um Ihr Verständnis.