Körperkitsch

Wiederum aus gegebenem Anlass habe ich einen älteren Aufsatz aus der Frühzeit dieser Aufzeichnungen hervorgeholt und behutsam renoviert. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach.

***

Die Tätowierung der Menschheit begann vor etwa siebentausend Jahren, wie entsprechende Mumienfunde im nördlichen Chile belegen. War die dauerhafte Körperzeichnung bis vor einigen Jahren noch vornehmlich Kennzeichen gewisser Randgruppen, etwa Knastbrüder, Seefahrer und zweifelhafter Damen, deren Kundenstamm sich im Wesentlichen aus Knastbrüdern und Seefahrern zusammensetzte, so wird heute die nicht-tätowierte Minderheit langsam zu einer schrumpfenden Randgruppe. Nicht mehr nur der Punk auf dem Bahnhofsvorplatz oder die Aushilfsuschi im Lidl, auch leitende Angestellte und Zahnarztgattinnen bekennen heute Farbe; kein Fußballspieler, der was auf sich hält, betritt ohne großflächig beschriftete Unterarme den Rasen.

Meine erste Begegnung mit einer Tätowierung hatte ich in den Siebzigerjahren, als die Popgruppe Sailor auf dem Höhepunkt ihrer Zeit angekommen und regelmäßig in Ilja Richters Disco oder dem Musikladen zu sehen war, die älteren von Ihnen erinnern sich vielleicht: Girls, Girls, Girls und A Glas Of Champagne. Bekannt waren die vier Jungs aus England auch durch ihr Nickelodeon, ein sperriges, von zwei gegenüberstehenden Personen zu bedienendes Tasteninstrument.

https://www.youtube.com/watch?v=rmJxeysqiAY

In den Achtizigern gab es dann Formel Eins mit Peter Illmann, gefolgt von Ingolf Lück, Stefanie Tücking und Kai Böcking, allesamt untätowiert. Die Stars traten nun nicht mehr durch geplaybackte Bühnenpräsenz in Erscheinung, sondern in Musikvideos, eine musikalische Darreichungsform, die kurz zuvor in Mode gekommen war. Formel Eins, ich liebte es (während ich den gleichnamigen Autorennsport ungefähr so interessant fand und finde wie die Betrachtung eines Grashalmes beim Wachsen); mit dem Aufkommen von MTV und VIVA musste es sterben, sehr bedauerlich. Ab und zu wird es nochmal zum Leben erweckt, leider in unerträglicher Form: Anstatt die damaligen Sendungen einfach erneut auszustrahlen, zeigen sie nur einzelne Ausschnitte, ständig unterbrochen von völlig überflüssigen Kommentaren nicht minder überflüssiger Prominenter, die dann, während zum Beispiel Kim Wilde singt, so Sätze sagen wie „Oh ja, bei dem Lied habe ich damals zum ersten Mal onaniert“.

Disco, Musikladen, Formel Eins, so was gibt es  heute gar nicht mehr, stattdessen sucht Deutschland den Superstar ohne jede Hoffnung, in jemals zu finden.

Zu Zeiten von Formel Eins war das Schiff von Sailor mitsamt ihrem tönenden Möbel längst gesunken oder bestenfalls im hintersten Winkel eines Hafenbeckens für alle Zeiten festgemacht als seeuntüchtiges Restaurantschiff. So komme ich zurück zum Thema: Ihr fescher Sänger, George Kajanus, sang nicht nur sehr schön, während er auf seiner akustischen Gitarre spielte, auch trug er auf seiner Wange eine kleine Tätowierung in Form eines Ankers. Also ich nehme nicht an, dass der da wirklich tätowiert war, aber man weiß ja nie bei so einem richtigen Seebären. In früher Jugend verehrte ich Sailor, konnte viele ihrer Lieder, frei von jeglichen Englischkenntnissen, mitsingen, und zu Karneval ging ich als – nein, nicht als Seemann – als George Kajanus, ohne Gitarre, aber mit Ringelpullover, Schiffermütze und Anker auf der Backe, also auf der Wange, meine ich. (Ich bin mir sicher, heute gibt es vermutlich nicht wenige Menschen, die einen Anker oder andere Bildnisse auf der Backe, nicht auf der Wange tragen.)

sailor

(Vorstehendes Bild zeigt mich ohne Anker, dafür mit blauem Auge. Da ich meine Kindheit überwiegend gewaltfrei in Erinnerung habe, nehme ich an, dass auch dieses Veilchen nur aufgemalt war.)

Sah man früher Tätowierungen bei den oben genannten Randgruppen vor allem auf Unterarmen und im Falle von George Kajanus im Gesicht, so ist heute nahezu keine Körperregion mehr davon ausgenommen. Während das eine Zeit lang vor allem bei Damen beliebte Arschgeweih aus gutem Grund aus der Mode gekommen ist (was bei einer Tätowierung ja eher eine Art langfristiges persönliches Pech bedeutet), sieht man immer mehr junge Männer und Frauen mit tätowierten Waden. Ich finde das schlimm. Ein Mädchenbein soll glatt sein, ein Jungsbein haarig, aber nicht tätowiert, so ist es meines Wissens in der päpstlichen Schöpfungsordnung vorgesehen, vielleicht irre ich mich aber auch und der Papst ist unterhalb seines wallenden Gewandes großflächig gefärbt, niemand wird es, Gott sei Dank, je erfahren.

In unserer Nachbarschaft gibt es ein Tattoo-Studio, wo die piksende Dauerfärbung direkt hinter einem Schaufenster erfolgt. Der Einzufärbende sitzt mit entblößtem Körper(teil) in einer Art Frauenarztstuhl, während der Künstler mit mächtigen, von oben bis unten tätowierten Armen für jedermann sichtbar seinem stechenden Werk nachgeht. Tätowiert der sich wohl selbst, oder geht er dafür seinerseits in ein Tatoo-Studio seines Vertrauens?

Ich gestehe: auch ich wollte vor knapp zwanzig Jahren, als die Blüte meiner Jahre noch in kräftigen Farben strahlte, nicht farblos dahinwelken, daher suchte ich aus einer spontanen Laune heraus zusammen mit einem Freund so einen Laden auf. Nur was ganz kleines, etwas größeres hätte auch nicht auf mein spilleriges Oberärmchen gepasst; ein Ornament aus dem Katalog ohne jede symbolische Aussage, so hoffe ich jedenfalls, genau weiß ich es nicht. Vielleicht ist es ja ein fremdländisches Schriftzeichen, welches mich in ein eher ungünstiges Licht rückt, etwa als Kinderhasser oder Paarhuferkopulierer. Wenn es so sein sollte, werde ich es hoffentlich niemals erfahren.

Tätow

Wenigstens war ich so vorausschauend, für das Bildnis eine Stelle zu wählen, welche im normalen Alltag verdeckt ist. Dennoch wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das meiner Mutter gegenüber nicht erwähnen.

3 Gedanken zu “Körperkitsch

  1. Michi Dezember 15, 2017 / 15:54

    …Paarhuferkopullierer? Dein Ernst? :):):) das muss ich gleich mal Herrn Google fragen, was das wohl heißen mag *LACH* ansonsten hat mich der Artikel seeeeehr schmunzeln lassen. Danke Dir dafür!

    Like

Hinterlasse einen Kommentar