Mysterien der Bahnsteighalle

Aufgrund meiner Neigung, fast allem, um das andere viel Geschrei machen, mit Zurückhaltung zu begegnen, nahm ich die gedruckten und verfilmten Geschichten um den Zauberlehrling Harry Potter nur mit mäßigem Interesse zur Kenntnis. Gleichwohl durchdrang den ansonsten sehr wirkungsvollen Filter des Desinteresses das Wissensrudiment darüber, dass der sagenumwobene Hogwarts-Express, mit dem P. üblicherweise in die Zauberschule reiste, von Gleis neun-dreiviertel des Londoner Bahnhofs Kings Cross abfuhr, welches nur für in die Zauberei eingeweihte Personen sicht- und nutzbar war, während für alle anderen, die sogenannten „Muggel“, nach Gleis neun einfach nur das Gleis zehn folgte.

Ein vergleichbares Mysterium auf Schienen vollbringt zurzeit die Deutsche Bahn im Bonner Hauptbahnhof, indes auch für Muggel wie mich sichtbar: Wer vormittags in Bad Godesberg zu tun hat, kann bequem und zügig mit der Regionalbahn achtundvierzig dorthin gelangen, Abfahrt um 10:47 Uhr von Gleis drei. Allein: Zur selben Zeit, also ebenfalls 10:47 Uhr, fährt die Regionalbahn dreißig, auch als Ahrtalbahn bekannt, in dieselbe Richtung, nur von Gleis vier. Wer es nicht glaubt, werfe einen Blick auf den Aushangfahrplan im Bahnhof.

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Führen also beide Züge planmäßig ab, kollidierten sie auf der nächsten Weiche*. Wie kann das sein, wer plant so etwas? Nun, die Lösung dieses fahrplanerischen Rätsels im Raum-Zeit-Gefüge ist einfach und keineswegs magisch: Die Bahn baut auf das nicht minder sagenumwobene Phänomen „Verzögerungen im Betriebsablauf“, welches verlässlich die Unpünktlichkeit eines der beiden Züge sicherstellt. So kann der erste unbehelligt und ohne planmäßige Flankenfahrt zur angegebenen Abfahrtzeit den Bahnhof verlassen, da der andere heute leider wenige Minuten später eintrifft. Wir danken für Ihr Verständnis.

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* Ja ich weiß, das ist eigentlich** nicht möglich, da nur einer von beiden das die freie Ausfahrt verkündende grüne Licht gezeigt bekommt. Aber nur mal angenommen.

** Aber eben nur eigentlich, manchmal schaffen sie es doch.

2 Gedanken zu “Mysterien der Bahnsteighalle

  1. Tanja im Norden November 15, 2017 / 10:40

    Ist doch sehr raffiniert. Würde man planen, dass einer der beiden Züge zuerst führe, dann wäre man ja festgelegt. Flexibilität heisst das Zauberwort!

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